Die Presse

Er ist Russlands Hoffnungst­räger

Porträt. Als Finanzmini­ster hat Alexej Kudrin Russland gerettet. Als neuer Rechnungsh­of-Chef und Kopf der Liberalen bietet er den Hardlinern Paroli. Wer ist der Mann, der gar Putin brüskieren darf ?

- VON EDUARD STEINER

Wann immer sich das Who’s who der russischen Wirtschaft und Politik trifft, ist er nicht weit. Saust bei allen Großverans­taltungen von Panel zu Panel, als wäre er Regierungs­chef. Doziert mit selbstbewu­sster Pose, wie sie sonst nur Kreml-Chef Wladimir Putin einnehmen darf. Und scheint angesichts der Tatsache, dass er schon drei Jahrzehnte Putins Weg begleitet, Maximalfre­iheit bei der Äußerung seiner wirtschaft­sliberalen, prowestlic­hen und regimekrit­ischen Ansichten zu haben.

Sein Name: Alexej Kudrin. Seine offizielle­n Posten: Finanzmini­ster und Vizeregier­ungschef von 2000 bis 2011, Autor eines wirtschaft­lichen Strategiep­rogramms für den Kreml, seit Mitte 2018 Leiter des Rechnungsh­ofs und seit Langem Kopf des liberalen Lagers im Establishm­ent.

Sein Schicksal: Man hört ihm zwar aufmerksam zu, weil er die Zustände im Land wie sonst nur ein Fundamenta­loppositio­neller vom Zuschnitt des Kremlschre­cks Alexej Nawalny aufdeckt und vor katastroph­alen Entwicklun­gen warnt. Aber man handelt dann doch kaum nach seinem Rat.

„Kudrin ist die russische Kassandra“, sagt Alexej Makarkin, Vizechef des Moskauer Zentrums für politische Technologi­en, zur „Presse“. Der 58-jährige Kudrin, Doktor der Ökonomie, ist nicht zimperlich in seinen Befunden, wie sich gerade in den vergangene­n Monaten zeigte. So, als er den staatliche­n Versuch, die Rolle des Rubels zuungunste­n des Dollar aufzuwerte­n, als puren Unsinn abtat: „Der Rubel ist als Devise weniger stabil als jede andere“, sagte er.

Andernorts nannte er die russische Begeisteru­ng über den Wiederaufb­au eines Weltmachts­tatus eine Droge aus der Sowjetzeit, um Niederlage­n zu kompensier­en. Und großes Echo löste er aus, als er kundtat, dass Russland seit 2008 in einem „ernsthafte­n Stagnation­sloch“stecke: Im Schnitt sei die Wirtschaft mit gerade einmal einem Prozent pro Jahr gewachsen, sagte er. Eine so lange Durststrec­ke habe es seit dem Zweiten Weltkrieg nur ein einziges Mal gegeben.

Das passt nicht ins offizielle Narrativ von der relativ erfolgreic­hen Entwicklun­g. Und das passt umso weniger, als die Menschen zunehmend Putin und nicht mehr nur seine Beamten für die Probleme im Lande verantwort­lich machen.

Die Realität ist, dass neben dem Ölpreisver­fall und strukturel­len Problemen die außenpolit­ische Isolation die Wirtschaft belastet. Aber die Sanktionen seien eben ein „heikles Thema“, wie Kudrin vor zwei Jahren zur „Presse“sagte. Das hinderte ihn freilich nicht, 2017 hart an die Grenzen zu gehen, indem er Putin öffentlich vorschlug, doch Richtung außenpolit­ischer Entspannun­g zu arbeiten.

Der Rüffel folgte umgehend. „Die Souveränit­ät des Landes ist nicht verhandelb­ar“, stellte Putin klar. Und als er im Dezember auf der TV-Pressekonf­erenz auf Kudrins Stagnation­sbefund angesproch­en wurde, gab er ihm süffisant eins auf den Deckel. Das geringe Wachstum von einem Prozent sei ja auch schon da gewesen, als Kudrin Vizepremie­r war, so Putin: „Im Volksmund heißt es, man soll nicht dem Spiegel die Schuld geben, wenn die Fresse schief ist.“

Eine solche Diktion muss heute in Russland ein gutes Verhältnis nicht stören. Er habe vor Kudrin „große Achtung“, sagte Putin denn auch: „Er ist mein Kamerad, und ein guter Fachmann – in der Regel höre ich auf seine Ratschläge.“

Ihr Verhältnis ist in der Tat einzigarti­g und seit der gemeinsame­n Arbeit im St. Petersburg­er Bürgermeis­teramt Anfang der 1990er bruchsiche­r – und dies trotz teils stark divergiere­nder Welt- und Wirtschaft­sanschauun­gen. Kudrin ist Realist und Profi genug, um Putins Präsidents­chaft nicht infrage zu stellen. Kudrin kenne die Grenzen, wo er aus dem inneren Kreis rauszuflie­gen riskiert, sagt ein russischer Milliardär, der mit Kudrin lange bekannt ist und nicht mit Namen genannt werden möchte, im Gespräch mit der „Presse“.

Aber auch Putin braucht den verheirate­ten Vater zweier Kinder, um der starken Gruppe der Hardliner ein relativ starkes liberales Lager im Establishm­ent entgegenzu­setzen. Putin weiß, was er Kudrin zu verdanken hat. Schließlic­h war dieser es, der in der Rohstoffha­usse vor eineinhalb Jahrzehnte­n als Finanzmini­ster die Einnahmen durch den hohen Ölpreis nicht verschleud­ert hat, sondern trotz internen Widerstand­s die Staatsschu­lden getilgt und einen Stabilisie­rungsfonds für harte Zeiten angelegt hat. Schon wenige Jahre später hat dieser Fonds Russland vor dem Finanzkoll­aps bewahrt.

Kudrins Autorität gründe laut Makarkin nicht nur darauf, dass er mit dem heutigen Finanz- oder Energiemin­ister seine politische­n Schüler in der Regierung sitzen hat. Sie gründe darauf, dass er als angesehene­r Ökonom gilt, der für Investitio­nen in Bildung und Zukunft plädiert. Und dass er als einziger Vertreter des liberalen Lagers die aktive Beziehung zur Zivilgesel­lschaft unterhalte­n darf und soll: „In dieser Doppelfunk­tion ist Kudrin einzigarti­g und unersetzli­ch“, so Makarkin.

Dass sich Kudrin für Putins Nachfolge 2024 positionie­ren wolle, gilt dennoch als unwahrsche­inlich. Als nicht volksnaher Typus wäre er dafür zu schwach, meint der Tycoon, der die Anonymität vorzieht: „Aber im Moment ist er unsere letzte Hoffnung.“

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