Er ist Russlands Hoffnungsträger
Porträt. Als Finanzminister hat Alexej Kudrin Russland gerettet. Als neuer Rechnungshof-Chef und Kopf der Liberalen bietet er den Hardlinern Paroli. Wer ist der Mann, der gar Putin brüskieren darf ?
Wann immer sich das Who’s who der russischen Wirtschaft und Politik trifft, ist er nicht weit. Saust bei allen Großveranstaltungen von Panel zu Panel, als wäre er Regierungschef. Doziert mit selbstbewusster Pose, wie sie sonst nur Kreml-Chef Wladimir Putin einnehmen darf. Und scheint angesichts der Tatsache, dass er schon drei Jahrzehnte Putins Weg begleitet, Maximalfreiheit bei der Äußerung seiner wirtschaftsliberalen, prowestlichen und regimekritischen Ansichten zu haben.
Sein Name: Alexej Kudrin. Seine offiziellen Posten: Finanzminister und Vizeregierungschef von 2000 bis 2011, Autor eines wirtschaftlichen Strategieprogramms für den Kreml, seit Mitte 2018 Leiter des Rechnungshofs und seit Langem Kopf des liberalen Lagers im Establishment.
Sein Schicksal: Man hört ihm zwar aufmerksam zu, weil er die Zustände im Land wie sonst nur ein Fundamentaloppositioneller vom Zuschnitt des Kremlschrecks Alexej Nawalny aufdeckt und vor katastrophalen Entwicklungen warnt. Aber man handelt dann doch kaum nach seinem Rat.
„Kudrin ist die russische Kassandra“, sagt Alexej Makarkin, Vizechef des Moskauer Zentrums für politische Technologien, zur „Presse“. Der 58-jährige Kudrin, Doktor der Ökonomie, ist nicht zimperlich in seinen Befunden, wie sich gerade in den vergangenen Monaten zeigte. So, als er den staatlichen Versuch, die Rolle des Rubels zuungunsten des Dollar aufzuwerten, als puren Unsinn abtat: „Der Rubel ist als Devise weniger stabil als jede andere“, sagte er.
Andernorts nannte er die russische Begeisterung über den Wiederaufbau eines Weltmachtstatus eine Droge aus der Sowjetzeit, um Niederlagen zu kompensieren. Und großes Echo löste er aus, als er kundtat, dass Russland seit 2008 in einem „ernsthaften Stagnationsloch“stecke: Im Schnitt sei die Wirtschaft mit gerade einmal einem Prozent pro Jahr gewachsen, sagte er. Eine so lange Durststrecke habe es seit dem Zweiten Weltkrieg nur ein einziges Mal gegeben.
Das passt nicht ins offizielle Narrativ von der relativ erfolgreichen Entwicklung. Und das passt umso weniger, als die Menschen zunehmend Putin und nicht mehr nur seine Beamten für die Probleme im Lande verantwortlich machen.
Die Realität ist, dass neben dem Ölpreisverfall und strukturellen Problemen die außenpolitische Isolation die Wirtschaft belastet. Aber die Sanktionen seien eben ein „heikles Thema“, wie Kudrin vor zwei Jahren zur „Presse“sagte. Das hinderte ihn freilich nicht, 2017 hart an die Grenzen zu gehen, indem er Putin öffentlich vorschlug, doch Richtung außenpolitischer Entspannung zu arbeiten.
Der Rüffel folgte umgehend. „Die Souveränität des Landes ist nicht verhandelbar“, stellte Putin klar. Und als er im Dezember auf der TV-Pressekonferenz auf Kudrins Stagnationsbefund angesprochen wurde, gab er ihm süffisant eins auf den Deckel. Das geringe Wachstum von einem Prozent sei ja auch schon da gewesen, als Kudrin Vizepremier war, so Putin: „Im Volksmund heißt es, man soll nicht dem Spiegel die Schuld geben, wenn die Fresse schief ist.“
Eine solche Diktion muss heute in Russland ein gutes Verhältnis nicht stören. Er habe vor Kudrin „große Achtung“, sagte Putin denn auch: „Er ist mein Kamerad, und ein guter Fachmann – in der Regel höre ich auf seine Ratschläge.“
Ihr Verhältnis ist in der Tat einzigartig und seit der gemeinsamen Arbeit im St. Petersburger Bürgermeisteramt Anfang der 1990er bruchsicher – und dies trotz teils stark divergierender Welt- und Wirtschaftsanschauungen. Kudrin ist Realist und Profi genug, um Putins Präsidentschaft nicht infrage zu stellen. Kudrin kenne die Grenzen, wo er aus dem inneren Kreis rauszufliegen riskiert, sagt ein russischer Milliardär, der mit Kudrin lange bekannt ist und nicht mit Namen genannt werden möchte, im Gespräch mit der „Presse“.
Aber auch Putin braucht den verheirateten Vater zweier Kinder, um der starken Gruppe der Hardliner ein relativ starkes liberales Lager im Establishment entgegenzusetzen. Putin weiß, was er Kudrin zu verdanken hat. Schließlich war dieser es, der in der Rohstoffhausse vor eineinhalb Jahrzehnten als Finanzminister die Einnahmen durch den hohen Ölpreis nicht verschleudert hat, sondern trotz internen Widerstands die Staatsschulden getilgt und einen Stabilisierungsfonds für harte Zeiten angelegt hat. Schon wenige Jahre später hat dieser Fonds Russland vor dem Finanzkollaps bewahrt.
Kudrins Autorität gründe laut Makarkin nicht nur darauf, dass er mit dem heutigen Finanz- oder Energieminister seine politischen Schüler in der Regierung sitzen hat. Sie gründe darauf, dass er als angesehener Ökonom gilt, der für Investitionen in Bildung und Zukunft plädiert. Und dass er als einziger Vertreter des liberalen Lagers die aktive Beziehung zur Zivilgesellschaft unterhalten darf und soll: „In dieser Doppelfunktion ist Kudrin einzigartig und unersetzlich“, so Makarkin.
Dass sich Kudrin für Putins Nachfolge 2024 positionieren wolle, gilt dennoch als unwahrscheinlich. Als nicht volksnaher Typus wäre er dafür zu schwach, meint der Tycoon, der die Anonymität vorzieht: „Aber im Moment ist er unsere letzte Hoffnung.“