Das Buch, dem Michael Ende kein Ende geben wollte
Kinderbuch. Wie viel von Michael Ende im neuen Roman „Rodrigo Raubein“steckt – und wie raffiniert ein Autor Endes Fragment fertigschrieb.
Es scheint fast ein Pflichtthema für große Kinderbuchautoren des 20. Jahrhunderts zu sein. Otfried Preußler schrieb über Räuber, Astrid Lindgren ebenso – Michael Ende also auch: 24 Jahre nach seinem Tod erscheint heute, Dienstag, nach einem Fragment von ihm „Raubritter Rodrigo und Knirps, sein Knappe“. Ende wollte dieses späte Projekt nicht vollenden, das hat nun der eine Generation jüngere deutsche Kinderbuchautor Wieland Freund getan – und einen Kinderroman für Volksschüler daraus gemacht.
Nach dem von Preußlers Tochter verfassten, geradezu armseligen „Räuber Hotzenplotz und die Mondrakete“(nach einem Puppenspiel ihres Vaters) ist Misstrauen angebracht: Wie viel taugt der neue Hybrid als Kinderbuch? Und, vor allem für die älter gewordenen Verehrer von „Momo“, „Jim Knopf“oder „Die unendliche Geschichte“wesentlich: Wo endet Ende, beginnt Freund? Drei Kapitel bzw. die ersten 40 von 200 Sei- ten stammen vom 1995 verstorbenen Autor (in einer posthumen Sammlung wurden sie 1998 bereits einmal veröffentlicht). Und nein, sie enttäuschen nicht. Endes Ton ist gleich präsent – etwa wenn er seinen Lesern das „finstere Mittelalter“erklärt: als „Zeit, in der das elektrische Licht noch nicht erfunden war, das heißt also, bevor eure Großeltern kleine Kinder waren“.
Furchtlosigkeit: für Ende „ein Fehler“
Die Geschichte erinnert auch an Endes Liebe zu Marionetten (die er zeitweise selbst anfertigte). Ein Wagen mit „Papa Dicks“fahrendem Puppentheater stürzt im Dunkel auf der Landstraße um, danach ist der Sohn der Theaterleiter, Knirps, verschwunden. Was, wenn er vom hier hausenden schlimmsten aller Räuber entführt wurde, von Rodrigo Raubein?! Tatsächlich hat sich Knirps selbst auf die Suche nach Rodrigo gemacht – und Ende philosophiert dazu über Angst und Mut: „Mutig ist jemand, der Angst hat und seine Angst überwindet. Aber Knirps wusste überhaupt nicht, was Angst ist. Angst hat nämlich nur einer, der das Böse kennt, das in ihm steckt, und es deshalb nicht sucht. Und auch davon wusste Knirps nichts.“Deshalb sei diese Furchtlosigkeit keine Tugend, sondern ein Fehler. Äußerst ängstlich ist hingegen der gefürchtete Räuber Rodrigo, wie sich herausstellt; „er hatte“, schreibt Ende, „das Aussehen eines bösen Fleischerhundes und die Seele eines Gänseblümchens“.
Knirps wird Rodrigos Knappe – und das war’s mit Michael Ende. Ab nun ist der bekannte Kinderbuchautor Wieland Freund am Wort. Und zwar mit einem leicht anderen und doch erstaunlich harmonisch anschließenden, lebendigen Ton. Freunds Talent zeigt sich daran, wie viele Charakteristika Michael Endes er aufgreifen kann, ohne in die Nähe plumper Imitation zu geraten. Er hat auch weiteres Inventar von Michael Ende geborgt – und zwar die an der Decke von Papa Dicks Puppenwagen hängenden Puppen, wie Zauberer, Prinzessin und Drache. „Ich wollte nicht der Bauchredner Michael Endes sein. Man kann nicht der Bauchredner Michael Endes sein“, sagte Freund dazu. „Ende glaubte an die Kunst als absichtsloses Spiel, dessen Bedeutung erst nach und nach erscheint.“Der Papagei Sokrates flatterte schon bei Ende herum – bei Freund wird er zur Allegorie des in der Handlung herumirrenden, ihren Fortgang suchenden Autors Freund. Sokrates findet Rat beim Hofmedicus Padrubel. Dieser hat Ende-gemäße Botschaften parat, wie „Geschichten kommt man mit Plänen nicht bei“.
Man würde sich zu diesem fabelhaften Märchenaction-Buch weniger konventionelle Bilder wünschen, etwa solche wie vom 87-jährigen, ebenfalls im tiefsten 20. Jahrhundert wurzelnden Tomi Ungerer – mit einem Wagen beispielsweise wie dem in Ungerers Kinderfressergeschichte „Zeraldas Riese“. Auch das übrigens eine Art Räubergeschichte. War das wahrhaft klassische Räuberthema für Michael Ende am Ende doch zu konventionell? Vielleicht – nach seinem allerhöchsten Anspruch.