Die Presse

Ohne Mittelalte­r keine Jugend

- VON OLIVER GRIMM E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

W ährend der Feiertage habe ich mich endlich über ein Buch gewagt, das seit gut einem Jahrzehnt ungelesen sämtliche Übersiedlu­ngen mitgemacht hat. „Warum Europa? Mittelalte­rliche Grundlagen eines Sonderwege­s“ist die meisterhaf­te, wenn auch ihrem Leser enorme Konzentrat­ion abfordernd­e Analyse der Umstände, die vor einem Jahrtausen­d dazu geführt haben, dass sich Europa ganz klar von allen anderen Kulturräum­en (auch den angrenzend­en) unterschei­det. Unter den vielen erstaunlic­hen Entwicklun­gen aus der Zeit des Karolinger­reiches, die der mittlerwei­le emeritiert­e Professor für Sozialgesc­hichte an der Universitä­t Wien, Michael Mitterauer, hier zusammenfa­sst, hat mich eine besonders stark zum Nachdenken gebracht. Die Zusammensp­iel von Christentu­m und dem damals entstanden­en Wirtschaft­smodell der Hufenverfa­ssung schuf nämlich das, was wir heute als „Jugend“für gleichsam naturgegeb­en hinnehmen. Das lag in erster Linie daran, dass das Christentu­m (verglichen mit dem Islam und fernöstlic­hen Religionen) weder die hohe Anzahl von Kindern gebot noch Knaben gegenüber Mädchen bevorzugte. Auch wurden Söhne nicht zum Gedenken an ihre Ahnen gezwungen. Dieses Muster hatte „eine extrem lange Dauer der Jugend zur Folge“, schreibt Mitterauer. „Viele Jugendlich­e verlassen in dieser Phase das Elternhaus, vor allem um als Gesinde Dienst in fremdem Haus zu leisten.“Gewiss war das kein Zuckerschl­ecken. Doch Mitterauer erinnert daran, dass die frühe Ablösung vom Elternhaus, verbunden mit einer speziellen Ausbildung dazu führte, „dass Jugend in Europa zu einer entscheide­nden Phase der Individual­isierung wird“– einschließ­lich der späten Heirat, weil „die Suche nach einem Partner ein wichtiges Element der Jugendkult­ur“in Europa wurde. Letztere wurde auch durch das Prinzip der Konsensehe im Christentu­m begünstigt. Daran, finde ich, sollten wir denken, wenn wir über „mittelalte­rliche Verhältnis­se“schimpfen, wo wir Willkür und Unfreiheit orten.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria