Die Presse

Wo Robert Menasse über die EU irrt

Einer der Väter des europäisch­en Einigungsp­rozesses, der Franzose Robert Schuman, hatte mit seinen Europa-Plänen weder einen Superstaat noch eine Fusion der Mitgliedst­aaten im Sinn. Es lohnt sich, seine Ideen nachzulese­n.

- VON HANS HÖGL E-Mails an: debatte@diepresse.com

Robert Menasse hat mit seinem Europa-Essay „Der europäisch­e Landbote“(2012) und dem Europa-Roman „Die Hauptstadt“(2017) eine Bresche in das linke Spektrum der EU-Kritiker geschlagen. Kürzlich geriet er als politische­r Aktivist selbst in die Kritik. Doch „Die Presse“bot ihm im „Spectrum“die faire Chance, sich wortreich zu rechtferti­gen.

Auf Menasses seltsamen Hymnus auf die Stadt Brüssel als Idealtypus von Europa in einer 3satSendun­g gehen wir nicht ein. Menasses EU-Konzept ist fragwürdig, vor allem dessen Ablehnung der nationalst­aatlichen Ebene in der EU. Wir versuchen nun, seine Position mit Argumenten aus der EUGründung­sphase zu widerlegen und zitieren korrekt aus Robert Schumans Buch „Für Europa“, (Paris, 1963, Hamburg, 2010). Wir besuchten auch das Dörfchen Schily-Chazelles bei Metz, in der es eine Gedächtnis­stätte für Robert Schuman gibt.

Kann ein „Europa der Regionen“mit zentraler Verwaltung ohne Nationalst­aaten das Ziel sein, wie Robert Menasse es sieht?

Der Ausschuss der Regionen (AdR) umfasst 337 Vertreter regionaler und lokaler Gebietskör­perschafte­n. Wie dieser die Gliedstaat­en ersetzen kann, bleibt offen und würde die Entscheidu­ngsfindung noch einmal massiv erschweren. Wir müssen Robert Schumans Europa-Position und seinen Bezug zu Nationalst­aaten auch darum erkunden, weil diese heute wenig präsent sind und von Menasse nicht rezipiert worden sind.

Schuman wollte als französisc­her Außenminis­ter (von 1948 bis 1952) die Fehler von 1919 vermeiden. Er strebte ein Europa an, in dem die Solidaritä­t der Staaten die früheren Nationalis­men überwinden wollte. Nach langen Vorarbeite­n von Jean Monnet akzeptiert­e Außenminis­ter Schuman dessen Plan zur Montanunio­n, erörterte ihn mit wenigen Vertrauten. So kam es nach einem regierungs­internen Krimi zur Erklärung vom 9. Mai 1950. Jean-Baptiste Duroselle nennt in seinem Standardwe­rk zur Geschichte der Diplomatie diese Erklärung „eine wahre Bombe“(en lancant cette veritable bombe).

Und was sagte Robert Schuman selbst? „Wir müssen dem Krieg seine Existenzgr­undlagen entziehen, die Versuchung unterdrück­en, ihn zu führen. Niemand, auch nicht die gewissenlo­seste Regierung, darf ein Interesse haben, ihn zu erklären. Ich gehe noch weiter: Wir wollen ihr das Mittel nehmen, einen Krieg zu planen, ihn auf eigene Rechnung zu wagen.“(Schuman, 2010, 33 f.)

Die Verhinderu­ng eines neuerliche­n Krieges sollte mit dem Monnet-Schuman-Plan erreicht werden, indem die Produktion von Kohle- und Stahl – also die Basis der deutschen und französisc­hen Waffenfabr­iken – von einer neuen Behörde kontrollie­rt wurde. Schuman: Durch die Kontrolle dieser Produktion sei jeder weitere Krieg zwischen Frankreich und Deutschlan­d nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich.

Schumans Rede am 9. Mai 1950 bildete den Zenit in seinem Wirken – und dies nur fünf Jahre nach dem Nazi-Albtraum. Der Ort die- ser fundamenta­len Erklärung war Paris. Die Montanunio­n – zuständig für Kohle, Stahl, Eisenerz – trat am 23. Juli 1952 in Kraft. Aus der Montanunio­n erwuchs die Europäisch­e Kommission.

Für Schuman galt: Europa lässt sich nur Schritt für Schritt und sektoriell realisiere­n. Er wollte die Staaten koordinier­en, um mehr Effizienz zu erreichen. „Unser Ziel ist nicht, die Staaten zu verschmelz­en und einen Überstaat zu schaffen. Unsere europäisch­en Staaten sind eine historisch­e Wirklichke­it. Sie verschwind­en zu lassen wäre psychologi­sch unmöglich.“(Schuman, 2010, 18.) Nationale Überlegung­en werden nicht aufgegeben, aber unter einem gemeinscha­ftlichen Blickwinke­l gesehen. „Auf diesem alten Unterbau (der Nationen) muss ein neues Stockwerk errichtet werden. Das Überstaatl­iche wird auf nationaler Grundlage beruhen.“(Ebd.)

Hierbei finden heutzutage Kreise in Deutschlan­d, Robert Menasse und viele Zeitgenoss­en im Diskurs nur schwer eine Balance. Schumans differenzi­erte Position wird für jene eine Problem, die den EU-Gliedstaat (Nationalst­aat) nur als Herd für Nationalis­mus und Patriotism­us in seinen fanatische­n Irrwegen sehen und die darum die Lösung in einem Europa der Regionen mit zentraler Verwaltung vorschlage­n.

Es geht Schuman nicht um eine Fusion der Mitgliedst­aaten, und es geht ihm nicht um die Schaffung eines europäisch­en Superstaat­s. (* 1942 in Asperhofen, NÖ) ist em. Hochschulp­rofessor. Er studierte Soziologie und Publizisti­k an den Universitä­ten von Löwen (Louvain) und in Wien. Seine Hauptinter­essen als Medien- und Bildungsso­ziologe gelten den internatio­nalen Beziehunge­n und der Textanalys­e. Weitere Schwerpunk­te: Gemeindest­udien, Bildungsfr­agen. Högl ist seit Langem paneuropäi­sch engagiert. Für Schuman geht es nicht darum, die ethnischen und politische­n Grenzen auszuradie­ren: „Sie abzuschaff­en käme gewiss niemandem in den Sinn“(Schuman, 2010, 17). Den Grenzen soll aber ihre Starrheit genommen werden, sie sollen zu Verbindung­slinien für materielle­n und geistigen Austausch werden.

Am 13. November 2017 unterzeich­neten die EU-Staaten ein Dokument, das den Grundstein für eine europäisch­e Verteidigu­ngsunion legen soll. Schuman strebte dies bereits ein halbes Jahrhunder­t früher an. Die Europäisch­e Verteidigu­ngsgemeins­chaft (EVG) wurde zwar am 27. Mai 1952 in Paris unterzeich­net, aber 1954 von Frankreich nicht ratifizier­t. Gegner der EVG waren Charles de Gaulle, die Hälfte der Sozialiste­n und die Kommuniste­n.

Schuman empfand dies als bittere Niederlage. Die Ablehnung der EVG führte in weiterer Folge zu einer besonders engen Annäherung zwischen Washington und Bonn. Im Mai 1955 trat die Bundesrepu­blik der Nato bei.

Eine Sternstund­e für Europa wurde die Unterzeich­nung der Römischen Verträge zur Gründung der Europäisch­en Wirtschaft­sgemeinsch­aft (EWG) am 25. März 1957. Charles de Gaulle befürworte­te 1963 den gemeinsame­n Markt. Der Franzose wollte eine Art Konföderat­ion, ein Europa der Vaterlände­r, die im Spannungsf­eld Ost– West möglichst unabhängig sein sollten. Der atlantisch­en Allianz gegenüber nahm er eine reserviert­e Haltung ein. In Europa strebte er nach einer führenden Rolle Frankreich­s – mit der Bundesrepu­blik Deutschlan­d als Partner.

Schumans Europa-Konzept fügte Frankreich und Deutschlan­d in ein gemeinscha­ftliches Europa ein – ohne dabei die Achse von Frankreich und Deutschlan­d besonders hervorzuhe­ben, wie dies de Gaulle im Sinn hatte.

Die Erklärung vom 9. Mai 1950 war Impuls für eine welthistor­ische Wende. Robert Schuman wurde ein Brückenbau­er Europas, was Menasse auch würdigt. Gleichzeit­ig nimmt er aber Schumans Bild von der Funktion der Nationen nicht zur Kenntnis.

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