Familiensaga orthodoxer Juden
Netflix. „Shtisel“, eine Serie über ultraorthodoxe Juden in Jerusalem, begeistert. „One of Us“zeigt Missstände in diesen Gemeinschaften. Auch Woody Allen widmete sich dem Thema.
Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl ihm von deinen Plänen!“Das Zitat stammt von Blaise Pascal, französischer Mathematiker, Physiker, Literat und christlicher Philosoph. Rabbi Shulem Shtisel aus Jerusalem sagt es zu seinem Sohn Akiva, der gleichfalls Rabbiner, aber ein begeisterter Zeichner und Maler ist. Er ist so begabt, dass er einen namhaften Galeristen findet, der ihn in Amerika promoten will. Aber Akiva zögert. Mit 27 Jahren sollte der hübsche junge Mann dringend heiraten – und er hat schon einige Fehlschläge erlitten. Eine wahre Obsession erfasste ihn für eine zweifache Witwe, einer bildschönen 16-Jährigen gab er darum den Laufpass, jetzt flirtet er mit seiner 23-jährigen Cousine Libbi. Doch deren Vater will einer Verwandten-Ehe nicht zustimmen, eine Malerkarriere kommt für den ruppigen Schwiegervater, Shulems in Antwerpen lebenden Bruder, schon gar nicht infrage – und Libbi selber will ein ganz normales jüdisches Ehe- und Familienleben führen . . .
„Why I can’t stop watching ,Shtisel‘“, schrieb Renee Ghert-Zand in der „Times of Israel“: Die „eskapistische“Serie sei einfach ein Trost inmitten von Terrorattacken und Angst. Ja, „Shtisel“ist eskapistisch, die Welt draußen scheint keine Rolle zu spielen. Vor allem ist „Shtisel“eine genau beobachtete Familiensaga. Klänge es nicht etwas seltsam, könnte man sie in puncto Authentizität mit der urbritischen Serie „Downton Abbey“vergleichen: Die Figuren, die Dialoge und das Milieu, alles passt exakt zusammen.
Im Theater scheint der Regisseur mächtig. Sein Name ist wohlbekannt. Oft überstrahlt er die Schauspieler, und manchmal verbreitet er Angst und Schrecken. In der Filmbranche kennt man viele Namen gar nicht. Zum Beispiel auch nicht jene der genialen „Shtisel“-Macher Ori Elon, Alon Zingman und Yehonatan Indursky. Letzterer ist selbst in einer orthodoxen Familie aufgewachsen. Die Serie zeigt ein strenges Regime der Alten, das oft das Leben der Jungen stört, auch zerstört – und ein sehr altmodisches Frauenbild. Als Gitis Mann sie und die fünf Kinder verlässt – angeblich, um im Ausland zu arbeiten, vielleicht hat er dort aber auch eine Freundin –, muss sie diese Schande für die Familie um jeden Preis verbergen.
Schlimm. Jedoch, die Frage ist, sind wir wirklich so weit weg von diesen Typen? Dem Patriarchen Shulem, der sechs Kinder hat und nach dem Tod seiner Frau ein junges Mädchen umwirbt; Shulems Mutter, die im Altersheim lebt, noch einmal ein Fest mit ihren zahllosen Enkeln feiern und das Meer sehen möchte; Shulems Enkelin, die pubertierende Ruchama, die heimlich einen jungen Burschen heiratet. In „Shtisel“spielen viele in Israel sehr bekannte Schauspieler, darunter Dov Glickman, den man auf der Straße nicht erkennen würde, weil er völlig anders aussieht als der monolithische Dauerraucher Shulem, der ständig seine erwachsenen Kinder belehrt, sie aber trotzdem mit missionarischer Fürsorge liebt.
Was ist erlaubt, was nicht, was darf der Nachwuchs und was kommt keinesfalls infrage? Auch wir in unserer angeblich liberalen und toleranten Welt schlagen uns mit solchen Problemen herum. Zwischen anverwandelter Modernität und über Generationen weitergegebener Tradition balancieren die Shtisels. Zwei Staffeln lang erleben sie Gratwanderungen, Heiteres und Bitteres.
Die Serie erzählt auch von einer Freude, die wir gelernt haben, mit Misstrauen zu beobachten: viele Kinder, Großfamilie! Und sie lässt die Geborgenheit fühlen, die Religion geben kann, eine Religion, in der nichts ohne Anrufung Gottes passiert, selbst wenn man nur durch eine Tür geht. Auch den Zwiespalt, der sich aus einem solchen Leben ergibt, macht die Serie deutlich: Sich sicher fühlen in alten Bräuchen und seiner Selbstverwirklichung nachgehen ist schwer möglich. Auf Netflix gibt’s außer der liebenswerten „Shtisel“-Serie noch den Film „One of Us“zu sehen. Er spielt im Milieu ultraorthodoxer Juden in den USA. Es geht um drei Exmitglieder der Gemeinschaft, die ihre Vergangenheit nicht loswerden können. Heidi Ewing und Rachel Grady haben die Doku produziert und gedreht, und sie gehen deutlich kritischer mit dem Thema um als die „Shtisel“-Macher. In den USA gab es heftige Diskussionen um „One of Us“, orthodoxe Gelehrte zweifelten den Wahrheitsgehalt des Films an, in dem u. a. häusliche Gewalt und Kindesmissbrauch thematisiert werden.
US-Produzentin Marta Kauffman, Miterfinderin der immens erfolgreichen Sitcom „Friends“, hat die Rechte für „Shtisel“erworben und plant nun eine Version, die in Brooklyn spielen soll. Da darf man jetzt neugierig sein, ob diese so authentisch und kritisch sein wird wie das Original – oder „One of Us“. Oder ob die mitunter penetrante Soße amerikanischer Unterhaltungskultur über diesen vielschichtigen Stoff gegossen wird.
John Turturro drehte 2013 „Plötzlich Gigolo“mit sich selbst in der Hauptrolle eines Lovers, der einsame, wohlhabende Frauen beglückt. Den Vermittler und Erzähler spielte Woody Allen. Der Gigolo verliebt sich in die Rabbinerwitwe Avigal, die von der jüdischen Bürgerwacht Shomrim bespitzelt wird. So charmant der Film daherkommt, er verschweigt keineswegs die unerbittlichen Gesetze einer religiösen Parallelwelt – die auch in New York gelten, einer Stadt, die als eine der freiesten der Welt angesehen wird.