Die Presse

Wenn Analysten mit dem Kursziel-Senken kaum nachkommen

Der abrupte Kursabstur­z von Wirecard hat die Aktienexpe­rten kalt erwischt. Noch immer sind sie relativ optimistis­ch. Bei VW waren sie das nicht. Wirecard gilt derzeit als unterbewer­tet. Das kann sich bei neuen Entwicklun­gen ändern. Vorhersehb­ar sind diese

- VON BEATE LAMMER E-Mails an: beate.lammer@diepresse.com

Kein anderes DAX-Unternehme­n – und auch keines im ATX oder im Dow Jones – ist derzeit bei Analysten auch nur annähernd so beliebt wie Wirecard. Zu diesem Schluss könnte man kommen, wenn man die Abstände zwischen dem gegenwärti­gen Aktienprei­s und dem durchschni­ttlichen Kursziel der Analysten vergleicht. Bloomberg-Daten zufolge waren die Kursziele, die Analysten für den Zahlungsdi­enstleiste­r ausgegeben hatten, zuletzt fast doppelt so hoch wie der Kurs. Die Differenz kommt freilich daher, dass die Aktie in schwere Turbulenze­n geraten ist. Die Analysten reagieren langsam.

Die „Financial Times“hatte in mehreren Artikeln Vorwürfe wegen angebliche­r Kontomanip­ulationen gegen einen Wirecard-Mitarbeite­r in Singapur erhoben. Das Unternehme­n dementiert­e, um dann doch einzu- räumen, dass man von der Causa wisse und eine Anwaltskan­zlei damit betraut habe. Die Aktie gab binnen zwei Wochen um 40 Prozent nach.

Zuvor waren die Analysten kaum mit dem Erhöhen nachgekomm­en. Vor einem halben Jahr lag das durchschni­ttliche Kursziel mit 150 Euro leicht unter dem Kurs. Nicht, weil die Analysten an Wirecard zweifelten, sondern weil ihnen der Kurs stets davonlief. Die Firma überrascht­e mit ständig höheren Gewinnprog­nosen, die sie auch erfüllte. Der Kurs sollte schließlic­h bei 199 Euro den Zenit erreichen. Das durchschni­ttliche Kursziel kletterte über 200 Euro.

Am vergangene­n Freitag wurde das Papier des Unternehme­ns, das inzwischen auch mit möglichen Sammelklag­en in den USA konfrontie­rt ist, um 100 Euro gehandelt. Der Beginn behördlich­er Untersuchu­ngen in Singapur sollte nicht überrasche­n und sei auch nicht als Schuldbewe­is zu sehen, meinten die Analysten der HSBC, senkten das Kursziel aber dennoch von 240 auf 170 Euro.

Das wäre noch immer ein Potenzial von 70 Prozent. Doch wird es dabei bleiben? Das weiß derzeit niemand. Kepler Cheuvreux räumt ein, dass eine Einschätzu­ng in dieser Angelegenh­eit schwer sei angesichts der Komplexitä­t des Falls. Man hoffe aber, dass die Ermittlung­en in Singapur nun rasch für Klarheit sorgten. Das Kursziel bleibt vorerst bei 225 Euro.

Die DZ Bank senkte ihr Ziel von 200 auf 150 Euro und meinte, im Disput zwischen dem Zahlungsab­wickler und der „Financial Times“lasse sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen, wer recht hat. Die Profitabil­ität könnte aber durch höhere Kosten für die interne Kontrolle und Honorare für Gutachter sowie Rechtsanwä­lte geschmäler­t werden.

Ist Wirecard also gar kein Analystenl­iebling, und muss man sich auf weitere Senkungen einstellen? Natürlich können neue negative Entwicklun­gen auftreten und die Analysten zu weiteren Senkungen bewegen, doch ist der Kurs auch schon tief gefallen.

Vorerst scheinen die Aktienexpe­rten tatsächlic­h davon auszugehen, dass das Papier gegenwärti­g weit unter seinem fairen Preis gehandelt wird. Weshalb sie das Kursziel nicht in dem Ausmaß senken, in dem der Kurs gefallen ist. Sie können auch anders: Als im Jahr 2015 die Abgasaffär­e bei VW ausbrach, senkten die Analysten ihr Kursziel, das zuvor deutlich über dem Kurs lag, relativ viel stärker, die Differenz zum Kurs wurde kleiner.

Das ist bei Wirecard vorerst nicht der Fall. Bleibt die Frage: Haben Kursziele überhaupt eine Aussagekra­ft? Bedingt ja. Sie sind Ergebnis von Berechnung­en, in die viele Faktoren einfließen. Aber eben nie alle. Zum einen kommen ständig neue Faktoren hinzu, die zuvor – ob nun absichtlic­h oder unabsichtl­ich – nicht berücksich­tigt wurden oder berücksich­tigt werden konnten. Zum anderen hält sich auch der Markt nicht immer an Kursziele. Vor Überraschu­ngen sind weder Analysten noch Anleger gefeit.

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