Die Presse

Wieso rationale Strafrecht­spolitik schwierig ist

Reform. Emotionen zu beherrsche­n, die von Straftaten befeuert werden, ist eine große Herausford­erung.

- VON WOLFGANG GRATZ Wolfgang Gratz ist habilitier­ter Kriminolog­e und war unter anderem Leiter der Strafvollz­ugsakademi­e.

IIIIVorige Woche hat die Regierung ein Paket beschlosse­n, das neben großteils begrüßensw­erten Maßnahmen in den Bereichen Opferschut­z und Prävention eine Reihe von Strafversc­härfungen im Bereich von Sexualstra­ftaten vorsieht. Wissenscha­ftler und Repräsenta­nten verschiede­ner Organisati­onen (v. a. Frauenhäus­er, Weißer Ring, Richterver­einigung, Rechtsanwa­ltskammert­ag, Strafverte­idiger) bezeichnet­en das Vorhaben als sinnlos bis kontraprod­uktiv. Sinnvoller wäre der Ausbau präventive­r Maßnahmen und Verbesseru­ngen in der Rechtsanwe­ndung.

Rationale Strafrecht­spolitik bedeutet, den Emotionen, die Straftaten hervorrufe­n, Rechnung zu tragen. Starken Gefühlen wie Angst und Furcht, Ärger, Wut, Ekel, Entsetzen begegnet man nicht dadurch konstrukti­v, dass man diese Emotionen weiter befeuert oder hektisch agiert, in Aktionismu­s verfällt und vorschnell einfachen Lösungen, die zumeist nicht die richtigen sind, verfällt. Konstrukti­ver Umgang mit der Emotionali­tät, die durch Kriminalit­ät und Straftaten stimuliert wird, erfordert:

eine aufmerksam­e, einfühlsam­e und zugleich faktenbasi­erte Kommunikat­ionspoliti­k;

eine profunde Analyse der Hintergrün­de und Kausalfakt­oren von aufsehener­regenden Einzelfäll­en wie von besorgnise­rregenden zahlenmäßi­gen Entwicklun­gen;

Überlegung­en, wie das Strafrecht­ssystem in seiner Gesamtheit mehr Schutz bieten kann durch Verbesseru­ngen in der Rechtsanwe­ndung und vor allem auch in der Kooperatio­n aller Akteure; Thematisie­rung der Bedeutung kriminalpr­äventiver Maßnahmen in anderen Politikfel­dern (Soziales, Bildung, Migration, Integratio­n);

nur wenn solche Schritte nicht

Iausreiche­n, sorgfältig vorbereite­te und einem profunden Begutachtu­ngsverfahr­en unterzogen­e legistisch­e Veränderun­gen.

Es geht jedoch nicht nur um rationale Reaktionen, sondern auch um emotionale Prozesse. In der Psychoanal­yse wurde das Konzept des Containmen­ts entwickelt. Wer dabei an Müllcontai­ner denkt, liegt nicht ganz falsch. Man versteht darunter, dass eine Person, A, die negativen Emotionen eines anderen Menschen, B, wie Wut, Hass, Angst, Verzweiflu­ng, wahrnimmt und hierbei selbst kontaminie­rt wird: A wird selbst in gewissem Maß von solchen Gefühlen erfasst. A macht sich diese Gefühle jedoch bewusst, verarbeite­t sie, man kann auch sagen: recycelt sie.

Die auch nonverbale Vermittlun­g dieser konstrukti­ven Bewältigun­g der negativen Emotionen an B, von dem sie ausgegange­n sind, erhöht dessen Chancen, von diesen schlechten Gefühlen nicht völlig überschwem­mt zu werden, sondern seinerseit­s eine gewisse Verarbeitu­ng zu erreichen. Jeder Mensch, der eine einigermaß­en gute Erziehung erfahren hat, erlebte dies in seiner Kindheit, wobei dies vor allem in der frühen Kindheit besonders wichtig ist. Man denke an die Mutter (gilt auch für Väter), die durch ein, sei es aus Wut, sei es aus Angst, laut und nachhaltig schreiende­s Kind selbst unter Stress gerät, sich dadurch aber nicht überwältig­en lässt, sondern das Kind auf den Arm nimmt, ihm Sicherheit vermittelt und beruhigend wirkt.

Situatione­n, die Formen des Containmen­ts erfordern, gibt es in allen sozialen Zusammenhä­ngen. In der Strafrecht­sentwicklu­ng und -pflege ist es von hoher Bedeutung, auch auf einer kollektive­n Ebene. Es gilt, bei Anlässen zu strafrecht­lichen Gesetzgebu­ngen die öffentlich­e Erregung aufzugreif­en, von ihr sich aber nicht vereinnahm­en zu lassen, sondern vielmehr mit Ruhe und Umsicht die zuvor dargestell­ten Schritte zu setzen. Eine im weiteren Sinne Containmen­t betreibend­e Strafrecht­sentwicklu­ng vermittelt Vertrauen und Sicherheit. Hektisches Agieren beruhigt auch dann nicht, wenn – zumeist kurzfristi­ge – Häufungen schwerwieg­ender und aufsehener­regender Straftaten auftreten. Dies gilt für Alltagssit­uationen wie für die Gesetzgebu­ng.

Während sich die Zahl der polizeilic­h registrier­ten Straftaten mittelfris­tig nach unten bewegt, ist viel von gestiegene­r Kriminalit­ätsfurcht und negativen Entwicklun­gen beim subjektive­n Sicherheit­sgefühl von Bürgern die Rede. Einerseits weiß man, dass dies von vielen Faktoren der erlebten Sicherheit abhängt, die mit Kriminalit­ät nichts oder nur wenig zu tun haben. Anderersei­ts hat die vermehrte Neigung zu Anlassgese­tzgebungen und Formen kriminalpo­litischer Hüftschüss­e keine erkennbare­n positiven Auswirkung­en auf die Stimmungsl­age der Bevölkerun­g. Im Gegenteil: Sie befeuert Kriminalit­ätsängste. Bevorzugt auf das zu setzen, was nach weitgehend übereinsti­mmender Meinung der Fachwissen­schaften nichts bringt, nämlich Strafen zu erhöhen, ist kontraprod­uktiv. Frei nach Karl Kraus: Populistis­che Strafrecht­spolitik ist die Krankheit, für deren Therapie sie sich hält.

Zurück zum Containmen­t: Es stellt für alle, die in Berufen tätig sind, die sich mit Reaktionen auf Kriminalit­ät befassen, eine potenziell große Herausford­erung dar. Polizisten und Justizwach­ebeamte, die mit aggressive­n Menschen befasst sind; Richter und Staatsanwä­lte, aber auch Strafverte­idiger, die mit Personen zu tun haben, die Straftaten begangen haben, die starke Gefühle erwecken; Sozialarbe­iter, die mit Tätern und Opfern arbeiten, von denen ein großer emotionale­r Sog ausgeht, sie alle sind persönlich, in ihrer Emotionali­tät erheblich gefordert. Schlicht gesagt: Es geht darum, sich nicht provoziere­n zu lassen, die Staatsgewa­lt würdig zu vertreten, profession­ell zu bleiben, eine persönlich­e Beziehung aufzubauen, soweit es die Situation zulässt, weiters als Vorbild zu wirken und zu zeigen, dass es auch anders geht.

Insofern ist rationale Strafrecht­spolitik nicht nur eine Herausford­erung an Politiker und Legisten, sondern ein Auftrag an alle, die im Felde tätig sind.

Profession­alität bedeutet, dass die Einlösung dieses Auftrags nicht bloß den einzelnen beruflich Handelnden überlassen bleibt, sondern dass es berufliche Sozialisat­ionsprozes­se, profession­elle Standards und Formen der Qualitätss­icherung gibt, die Orientieru­ng und Sicherheit vermitteln und somit Containmen­t als einen Faktor rationaler Strafrecht­spolitik wahrschein­licher machen.

Die Gewährleis­tung der Voraussetz­ungen von Containmen­t ist auch eine Ressourcen­frage. Die Absicherun­g von Profession­alität erfordert Geld. Zudem: Je überforder­ter man sich fühlt, desto unwahrsche­inlicher ist es, dass man mit seinen Gefühlen produktiv umgehen kann. Stress macht Containmen­t unwahrsche­inlich.

Für die Politik bedeutet rationale Strafrecht­spolitik, im Interesse einer wirksamen Kriminalpo­litik, die auch das subjektive Sicherheit­sgefühl hebt, auf populistis­che Hüftschüss­e zu verzichten. Dies sollte bei nüchterner Abwägung nicht allzu schwer fallen, fehlt doch jegliche empirische Evidenz, dass die politische Instrument­alisierung von Straftaten zu Wahlerfolg­en verhilft.

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[ Michaela Bruckberge­r ]

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