Akustische Rückgewinnung eines verlorenen Jahrhunderts
Sir Simon Rattle beschreibt bei seinem ersten Wien-Gastspiel mit London Symphony einen Bogen von Rameau bis Bartok.´ Das ist ein Auftrag! Das Orchesterrepertoire soll in zwei Richtungen expandieren.
Dieser Tage kehrt Sir Simon Rattle nach Wien zurück. Und zwar am Pult seines neuen Orchesters: London Symphony hat den Landsmann mit offenen Armen aufgenommen. Rattle hatte seine Karriere ja in seiner englischen Heimat gestartet – auf die nämliche Weise wie zur gleichen Zeit Mariss Jansons in Oslo, mit einem Orchester, von dem die Welt zuvor nicht wusste, dass es überhaupt existierte. Sowohl Jansons als auch Rattle vermochten sich durch effektive Aufbauarbeit „aus der Provinz“an die Spitze zu katapultieren.
Wobei Rattles von allen Kritikern gewürdigte Kunst nicht zuletzt darin bestand, ausgeklügelte Programme zu gestalten. Was er in Birmingham kultivierte, führt er als Chefdirigent des wichtigsten Londoner Orchesters nun weiter, das liest man bereits aus den beiden Programmen, die das neue Gespann im Wiener Musikverein präsentiert. Virtuoses aus dem Repertoire der klassischen Moderne und eine der seltener gespielten Bruckner-Symphonien; sowie ein Abend mit französischer Musik von Rameau bis Ravel.
Stilistische Grenzen wollte Rattle nie akzeptieren. Doch ist er ein Mann, der sich angelegentlich mit den Errungenschaften der OriginalklangPioniere beschäftigt hat und diese nahtlos in seine Arbeit integrierte.
Mag sein, dass es stimmt, was mancher kritische Geist über Rattles Engagement bei den Berliner Philharmonikern konstatierte: Die Schuhe eines Herbert von Karajan waren, was die Interpretation der großen Klassiker und Romantiker betraf, doch um einiges zu groß. Doch die Herangehensweise des „romantischen Symphonieorchesters“an Repertoire vor der Beethoven-Zeit hat sich durch Rattles Zugriff gelockert.
Wenn er Mozart oder Haydn dirigierte, war das stets ein entspannter, oft spielerisch anmutender Kompromiss zwischen althergebrachter „Symphonik“und kammermusikalischer Schlankheit. So ließ sich das Repertoire nicht nur ganz selbstverständlich um wichtige Stücke des 20. Jahrhunderts erweitern. Sondern man konnte sich auch wieder an das angesichts der stilistischen Grün-Bewegung verloren geglaubte 18. Jahrhundert annähern.
In diesem Sinne steht wohl Rameaus Suite aus den „Indes galantes“programmatisch am Beginn des Londoner Gastspiels im Musikverein. Dergleichen muss man nicht den in Kleinstbesetzung anrückenden Spezialisten-Ensembles überlassen.
Vielleicht kommt auf diese Weise ganz ohne Druck auch die Welt der Händel’schen Concerti grossi oder die von Bachs „Brandenburgischen Konzerten“wieder ins philharmonische Blickfeld. Dann hätte die Rattle-Generation mit ihrer „Großherzigkeit“doch allerhand erreicht.