Nackte Zahlen lügen nicht? Manchmal tun sie’s doch
Das Gezerre um die Führung der Statistik Austria hat gute Gründe. Denn es macht einen riesigen Unterschied, ob Politik der Statistik folgt – oder umgekehrt.
Auch revolutionäre Regime freilich entdecken, sobald sie ihre Macht konsolidieren, irgendwann ihre Liebe zur Statistik.
Rechtschaffene Politik braucht Statistik. Sie muss ja wissen, wer die Menschen sind, die von ihr regiert werden. Wenn sie, zum Beispiel, eine Baunorm festlegt, die definiert, wie hoch Türöffnungen sein müssen, ist es von Vorteil zu wissen, wie viele Menschen im Land besonders groß gewachsen sind. Wenn sich jeder zweite Bürger täglich irgendwo die Stirn anhaut, ist bei der Datenerhebung etwas schiefgelaufen. Politik muss wissen, wo wie viele Kinder leben, um Schulen zu errichten und Lehrer auszubilden. Wie verbringen Menschen ihren Tag? Mit wem leben sie zusammen, was haben sie gelernt, wie bewegen sie sich fort, wie viele Kilos bringen sie auf die Waage? Daten dazu helfen, um Verkehrsmittel, Kommunikationskanäle, Spitäler und Industrieanlagen zu planen. Was essen Menschen gern? Auch das sollte eine Regierung wissen, schließlich macht sie Landwirtschaftspolitik, kontrolliert die Qualität von Lebensmitteln, legt Ladenöffnungszeiten, Jugend- und Tierschutzbestimmungen, Alkoholgrenzwerte und Schanigärtenvorschriften fest.
Selbstverständlich wird eine Regierung ihre Gesetze nicht einfach den statistischen Durchschnittsgewohnheiten der Bürger anpassen. Ein erzieherischer Effekt hin zu sozial erwünschtem Verhalten darf dabei sein. Auch dabei ist Statistik hilfreich: Sie kann in regelmäßigen Abständen nachmessen und überprüfen, ob politische Maßnahmen Wirkung zeigen. Ob sich, beispielsweise, die Lungenkrebsraten verändern durch ein Rauchverbot. Die Zahl der Verkehrstoten durch eine Anschnallpflicht. Die Schulleistungen der Kinder durch eine Senkung der Klassenschülerhöchstzahlen. Oder die Vergewaltigungszahlen durch eine Erhöhung des Strafrahmens für Sexualdelikte. Eventuell kommt dabei heraus, dass Gesetze wirkungslos oder gar kontraproduktiv sind.
Wie auch immer – redliche Politik, die etwas verändern will, stellt sich dieser statistischen Überprüfung gern. Manipulative Politik hingegen wird stets versu- chen, sich dieser Überprüfung zu entziehen. Was tatsächlich passiert, ist ihr weitgehend egal – Hauptsache, es schaut alles nach außen hin toll aus, und sie wird gelobt und geliebt. Manipulative Politik lebt nämlich von der Kraft der Behauptung. Je größer ihr Sendungsbewusstsein, desto eher neigt sie dazu, konkrete Tatsachen einfach beiseitezuwischen – denn die Wirklichkeit soll ja ohnehin durch sie ganz neu erschaffen werden, und was vorher war, ist egal. Oliver Cromwell ließ bei seinem Feldzug durch England die Kirchenbücher verbrennen und zerstörte damit alle Geburtenregister. Die Französische Revolution ließ Archive samt allen darin gelagerten Besitz- und Steuerurkunden in Flammen aufgehen. Die maoistische Kulturrevolution in China und die Roten Khmer in Kambodscha wollten überhaupt Tabula rasa machen, alle gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen auslöschen und das Volk, quasi aus Lehm, mit eigener Hand neu formen. Auch revolutionäre Regime freilich entdecken, sobald sie ihre Macht konsolidieren, irgendwann ihre Liebe zur Statistik.
Die Sowjetunion beschäftigte ganze Heerscharen von Funktionären, die tagein, tagaus Tabellen mit Produktionszahlen sowjetischer Kartoffeln, Traktoren, Kabel, Schweine, Toilettenpapier und Schuhe erzeugten, gedruckt auf Hochglanzpapier und verbreitet in allen Sprachen dieser Welt. So viele Kubikmeter! So viele Tonnen! Immer neue Rekorde! So viele Zahlen! Und gleichzeitig so viel unnützes Zeug! Denn mit dem wirklichen Leben der Untertanen hatten all diese Zahlen nichts zu tun. Sie dienten bloß als Werbemittel. Um sich selbst und allen anderen zu zeigen, wie toll man war. Um sich selbst und alle anderen zu belügen. Die Politik hatte sich die Statistik untertan – und damit wertlos gemacht.
Dass Statistik nicht in die Hände von Regierungen gehört: Auch die österreichische Politik sollte das im Hinterkopf behalten, wenn sie die Statistik Austria neu organisieren will.