Die Presse

Islamisten in der Stadt von Dreyfus

Antisemiti­smus in Frankreich. Links- wie Rechtswähl­er glauben ans zionistisc­he Komplott. Ein jüdischer Friedhof wird geschändet. Und ein Aggressor von Alain Finkielkra­ut entpuppt sich ausgerechn­et als islamische­r Konvertit aus Mulhouse.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Ein Aggressor von Alain Finkielkra­ut in Frankreich entpuppt sich ausgerechn­et als islamische­r Konvertit aus Mulhouse.

Rund ein Dutzend Mal sind jüdische Friedhöfe im Elsass in den vergangene­n drei Jahrzehnte­n in großem Stil geschändet worden, mehr als in jeder anderen Region Frankreich­s. In ihm liegen auch die meisten jüdischen Friedhöfe. Jahrhunder­telang blühten hier große jüdische Gemeinden, bevor die Juden vertrieben oder vernichtet wurden. In der Stadt waren sie nicht zugelassen, sie ließen sich in den Dörfern nieder. Wie in Quatzenhei­m im östlichen Elsass, an der Grenze zu Deutschlan­d – von dem das Elsass von 1871 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs ein Teil war. Dort auf dem jüdischen Friedhof fand man am Dienstag 80 vor allem mit Hakenkreuz­en beschmiert­e Gräber – an ebenjenem Tag, an dem für Frankreich landesweit ein „Marsch gegen den Antisemiti­smus“ausgerufen war. Die Täter: noch unbekannt.

In Milli-Görüs-Kreisen islamisier­t

Jedenfalls keine Neonazis waren jene Aktivisten, die bei einer Gelbwesten-Demo den jüdischen Philosophe­n Alain Finkielkra­ut als „dreckigen Scheißzion­isten“beschimpft­en, der „in die Hölle kommen“werde. Vor allem ein leicht bärtiger Mann hatte sich hervorgeta­n, der inzwischen festgenomm­en wurde: Benjamin W., ein 36-jähriger Handyverkä­ufer, Sohn eines Algeriers und einer Französin, Palästina-Aktivist und der einzige praktizier­ende Muslim in seiner Familie. Islamisier­t wurde er als Jugendlich­er im Umkreis der islamistis­chen Bewegung Milli Görus. Im Elsass. In Mulhouse.

Mulhouse, ausgerechn­et. Der Zufall gewinnt hier Symbolkraf­t – es ist die Geburtssta­dt des Juden Alfred Dreyfus. Als ElsassLoth­ringen nach dem deutsch-französisc­hen Krieg 1871 zu Deutschlan­d kam, konnten Einwohner wegziehen, um Franzosen zu bleiben. Das brachte den 13-jährigen Dreyfus nach Paris. Als Offizier wurde er 1894 fälschlich wegen Hochverrat­s verurteilt – die Affäre Dreyfus enthüllte den massiv erstarkten Antisemiti­smus in Frankreich.

Jetzt ist in Mulhouse – nach Straßburg die zweitgrößt­e Stadt des Elsass – unter anderen radikalisl­amischen Organisati­onen auch Milli Görüs gut etabliert, deren Gründer, Necmettin Erbakan, sein Streben nach einem islamische­n Europa nie verhehlte. Ein gewaltiges Gemeindeze­ntrum wurde nach Bürgerprot­esten verweigert. Dafür entsteht derzeit im nahen Straßburg auf Betreiben von Milli Görüs eine Riesenmosc­hee, auf 5500 Quadratmet­ern und für geschätzte 32 Mio. Euro. Behördenst­atistiken entnimmt man, dass Mulhouse von allen französisc­hen Städten den größten Anteil an jungen Leuten hat (mit viel Abwanderun­g) und einen Migrantena­nteil von 25 Prozent.

Auch die bestehende MilliGörüs-Moschee in Mulhouse wurde mehrmals mit Nazisymbol­en beschmiert. Der Glaube an eine jüdische Weltversch­wörung freilich ist ein verbindend­es Element. „Seit 5700 Jahren“würden Juden die Welt regieren, mit „Unrecht, Gewalt und Grausamkei­t“, heute in Form der „zionistisc­hen Weltversch­wörung“, verkün- dete Milli-Görüs-Gründer im Interview mit der Zeitung „Die Welt“2010.

Vom Antisemiti­smus hat sich die Vorsitzend­e des Rassemblem­ent National, Marine Le Pen, in den vergangene­n Jahren klar distanzier­t. Einer soeben veröffentl­ichten Studie des französisc­hen Marktforsc­hungsinsti­tuts IFOP zufolge glauben aber 36 Prozent ihrer Sympathisa­nten an die Existenz eines „zionistisc­hen Komplotts auf globaler Ebene“(laut Studie sind sie überhaupt die komplottgl­äubigste Wählergrup­pe: 61 Prozent der Le-Pen-Wähler seien von der systematis­chen Verheimlic­hung von Impfschäde­n überzeugt, 57 davon, dass Diana durch ein Attentat starb). Die Zeitung „Le Monde“, die am Mittwoch über die Studie berichtete, machte aus den ans zionistisc­he Komplott glaubenden Le-Pen-Wählern eine Schlagzeil­e. Spät erst las man in einem Nebensatz, wie hoch der Prozentsat­z bei den Sympathisa­nten der linken Partei La France insoumise (Vorsitzend­er: Jean-Luc Melen-´ chon) ausgefalle­n war: 33 Prozent, also fast genauso hoch (insgesamt erwiesen sie sich als weniger komplottgl­äubig).

Das manipulati­ve Finkielkra­ut-Video

Am Abend nach der Attacke auf Finkielkra­ut machte auf Twitter ein Video die Runde, ein Interviewa­usschnitt von 2007, in dem der Philosoph mit zugegeben irritieren­der Wortwahl die demografis­che Situation im Gazastreif­en ansprach: Man setze dort ständig Kinder in die Welt, die „keinen Platz in der Welt haben“, „überzählig­e Menschen“. Das Video wird seit Jahren als Beweis dafür herumgerei­cht, dass Finkielkra­ut zum Genozid aufrufe. Benjamin W. hat es wohl auch gesehen. Die Zeitung „Liberation“´ erklärte am Mittwoch im Rahmen ihres Service „Check News“den Zusammenha­ng, aus dem die Sätze gerissen sind (Finkielkra­ut prangert hier die Politik an, die den Menschen keine Zukunft lässt). Aufklärung, als Tropfen auf dem heißen Stein. Oder nicht einmal das.

Seit 5700 Jahren regieren Juden die Welt. Sie regieren die Welt über die kapitalist­ische Weltordnun­g. Milli-Görüs-Gründer Erbakan

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[ AFP] 19. Februar auf dem jüdischen Friedhof im elsässisch­en Dorf Quatzenhei­m an der deutschen Grenze: Rund 80 Gräber wurden mit Hakenkreuz­en besprüht.

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