„Britische Regierung ist planlos, unehrlich, konfus“
Interview. Sir Ivan Rogers, britischer Ex-EU-Botschafter, plädiert trotzdem für Verständnis für seine Heimat.
Die Presse: Warum tun sich die Briten so schwer mit dem Brexit? Sir Ivan Rogers: Sie müssen sich die Sache wie einen EU-Beitritt im Rücklauf vorstellen. Mit dem Unterschied, dass ein Beitrittskandidat EU-Normen übernimmt, während sich Großbritannien davon wegbewegt.
In so einem Fall wäre es gut zu wissen, wohin die Reise gehen soll. Und genau das ist das fundamentale Problem Großbritanniens: Wir hätten uns möglichst früh auf ein realistisches Verhandlungsziel einigen müssen. Es geht um die Entscheidung, zu welchen Kompromissen zwischen Souveränität und Marktzugang man bereit ist. Bedauerlicherweise hat sich die britische Regierung vor dieser Debatte bis heute gedrückt.
In der Bevölkerung scheint das Interesse an realistischen Lösungen auch nicht ausgeprägt zu sein. 17,4 Millionen Wähler stimmten für den Brexit – zugegebenermaßen aus unterschiedlichen Gründen, doch ihr Votum war eindeutig. Nein, die Verantwortung für das Schlamassel liegt einzig und allein bei der Regierung. Sie war und ist planlos, unehrlich, konfus. Premierministerin Theresa May hat sehr wohl einen Plan: ihren Deal. Den Plan gibt es, doch es mangelt an der Umsetzbarkeit. Bis dato konnte May weder ihre Parteikollegen noch die Abgeordneten überzeugen. Der Fairness halber muss man darauf hinweisen, dass Mays Rivalen selbst keine realistischen Gegenvorschläge haben.
Und wo bleiben die EU-Kenner? Ich habe Verständnis für Politiker, ihre Lage ist alles andere als einfach: Auf der einen Seite gibt es ein klares Votum für den Brexit, auf der anderen Seite Experten wie mich, die darauf hinweisen, dass die Verhandlungen langwierig und komplex sein werden. Dass diese Botschaft alles andere als leicht verkäuflich ist, liegt auf der Hand.
Ihre Warnung vor einem übereilten Beginn des Austrittsprozesses wurde von Premierministerin Theresa May ignoriert. Haben Sie das Gefühl, versagt zu haben? Ich stehe nach wie vor zu jeder meiner Aussagen und Einschätzungen aus dem Jahr 2016. Es werden noch viele Jahre vergehen, bis wir auf die andere Seite des Brexit gelangt sind. In den Wochen und Monaten nach dem Referendum waren Warnungen davor, dass der Austrittsprozess acht bis zehn Jahre dauern und immens schwierig sein wird, alles andere als erwünscht. Ich bin leider auf taube Ohren gestoßen.
Welchen Brexit würden Sie empfehlen? Auf keinen Fall den No Deal. Der Deal von Premierministerin May fokussiert auf Erleichterungen im Warenhandel, vernachlässigt aber den Handel mit Dienstleistungen, in dem Großbritannien besonders wettbewerbsfähig ist. Dass die britischen Vorgaben – keine Personenfreizügigkeit, keine Oberhoheit des Europäischen Gerichtshofs – eine enge Anbindung an den Binnenmarkt ausschließen, ist augenscheinlich. Aber ein gutes, umfassendes Freihandelsabkommen liegt in beiderseitigem Interesse.
Sollten die Europäer mehr Verständnis für die Briten zeigen? Die Verhandler der EU-Kommission haben ihren Job gut gemacht. Sie waren clever, vorbereitet und über die eigene Interessenlage im Klaren. Die Brüsseler Technokraten haben bei den Verhandlungen alles erreicht, was sie sich zum Ziel gesetzt haben. Also ein totaler Erfolg der EU. Das Problem ist nur, dass dieser taktische Fokus die längerfristige Strategie außer Acht lässt. Großbritannien ist und bleibt der wichtigste Handelspartner der EU-27 und ein sicherheitspolitischer Player. Die europäischen Staats- und Regierungschefs hätten die Angelegenheit nicht wie ein stinknormales Handelsabkommen behandeln dürfen. Beim Brexit steht viel mehr auf dem Spiel.
Dass es so weit kam, liegt doch an Großbritannien selbst. Die Briten sind problematische Partner, keine Frage. Und in den vergangenen fünf Jahren waren wir sogar ausgesprochen lästig. Nichtsdestoweniger müssen die EU-27 Interesse an einem freundschaftlichen und profitablen Verhältnis haben.
Innerhalb der EU gibt es unterschiedliche Interessenlagen. Frankreich hat andere Prioritäten als Deutschland, Italien andere als die Skandinavier. Ich fürchte, die EU wird nicht um eine Grundsatzdebatte umhinkommen. Die Staats- und Regierungschefs werden eine gemeinsame Antwort auf die britische Frage finden müssen.
Welche Vorgangsweise würden Sie empfehlen? Das Drängen auf einen Exit vom Brexit ist keine Lösung. Das Votum war eine demokratische Entscheidung. Keine britische Regierung kann das Austrittsverfahren ohne ein neuerliches Referendum aussetzen. Und eine Wiederholung der Volksabstimmung halte ich erstens für unklug und zweitens für sehr unwahrscheinlich. Andererseits kann ich die europäischen Sorgen vor einem Aufschub, der für weitere Geplänkel in London vergeudet wird, gut nachvollziehen. Aber Großbritannien steckt nun einmal in einer tiefen Krise. Und ein Partner, der in einer Krise steckt, hat Verständnis und Unterstützung verdient. Meine Empfehlung an die EU lautet: Habt Geduld, denkt strategisch, behaltet die langfristige Perspektive im Auge. Und seid bereit für kreative Lösungen.
Die von Ihnen eingeforderte Geduld beinhaltet aber die Möglichkeit, dass Großbritannien an den Europawahlen teilnimmt. Eine Europawahl in Großbritannien könnte alles noch schlimmer machen. Angesichts der momentanen Stimmungslage will ich mir nicht ausmalen, wie das Votum ausgehen könnte. Wir brauchen dringend einen einvernehmlichen EU-Austritt, um rasch über die Zukunft sprechen zu können. Fliegt uns der Brexit um die Ohren, wird sich die europafeindliche Stimmung in der britischen Bevölkerung verfestigen.
Hat Theresa May noch eine Chance, ihren Deal durchs Unterhaus zu bugsieren? Ja. Sie hat parteiinterne Rivalen, die gegen ihren Deal stimmen werden. Ich fürchte, dass Mays Strategie, die Tories hinter sich zu vereinen, nicht aufgehen wird. Sie braucht Unterstützung der Labour-Abgeordneten – um die sie sich bisher nicht bemüht hat.