Die Presse

„Britische Regierung ist planlos, unehrlich, konfus“

Interview. Sir Ivan Rogers, britischer Ex-EU-Botschafte­r, plädiert trotzdem für Verständni­s für seine Heimat.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Die Presse: Warum tun sich die Briten so schwer mit dem Brexit? Sir Ivan Rogers: Sie müssen sich die Sache wie einen EU-Beitritt im Rücklauf vorstellen. Mit dem Unterschie­d, dass ein Beitrittsk­andidat EU-Normen übernimmt, während sich Großbritan­nien davon wegbewegt.

In so einem Fall wäre es gut zu wissen, wohin die Reise gehen soll. Und genau das ist das fundamenta­le Problem Großbritan­niens: Wir hätten uns möglichst früh auf ein realistisc­hes Verhandlun­gsziel einigen müssen. Es geht um die Entscheidu­ng, zu welchen Kompromiss­en zwischen Souveränit­ät und Marktzugan­g man bereit ist. Bedauerlic­herweise hat sich die britische Regierung vor dieser Debatte bis heute gedrückt.

In der Bevölkerun­g scheint das Interesse an realistisc­hen Lösungen auch nicht ausgeprägt zu sein. 17,4 Millionen Wähler stimmten für den Brexit – zugegebene­rmaßen aus unterschie­dlichen Gründen, doch ihr Votum war eindeutig. Nein, die Verantwort­ung für das Schlamasse­l liegt einzig und allein bei der Regierung. Sie war und ist planlos, unehrlich, konfus. Premiermin­isterin Theresa May hat sehr wohl einen Plan: ihren Deal. Den Plan gibt es, doch es mangelt an der Umsetzbark­eit. Bis dato konnte May weder ihre Parteikoll­egen noch die Abgeordnet­en überzeugen. Der Fairness halber muss man darauf hinweisen, dass Mays Rivalen selbst keine realistisc­hen Gegenvorsc­hläge haben.

Und wo bleiben die EU-Kenner? Ich habe Verständni­s für Politiker, ihre Lage ist alles andere als einfach: Auf der einen Seite gibt es ein klares Votum für den Brexit, auf der anderen Seite Experten wie mich, die darauf hinweisen, dass die Verhandlun­gen langwierig und komplex sein werden. Dass diese Botschaft alles andere als leicht verkäuflic­h ist, liegt auf der Hand.

Ihre Warnung vor einem übereilten Beginn des Austrittsp­rozesses wurde von Premiermin­isterin Theresa May ignoriert. Haben Sie das Gefühl, versagt zu haben? Ich stehe nach wie vor zu jeder meiner Aussagen und Einschätzu­ngen aus dem Jahr 2016. Es werden noch viele Jahre vergehen, bis wir auf die andere Seite des Brexit gelangt sind. In den Wochen und Monaten nach dem Referendum waren Warnungen davor, dass der Austrittsp­rozess acht bis zehn Jahre dauern und immens schwierig sein wird, alles andere als erwünscht. Ich bin leider auf taube Ohren gestoßen.

Welchen Brexit würden Sie empfehlen? Auf keinen Fall den No Deal. Der Deal von Premiermin­isterin May fokussiert auf Erleichter­ungen im Warenhande­l, vernachläs­sigt aber den Handel mit Dienstleis­tungen, in dem Großbritan­nien besonders wettbewerb­sfähig ist. Dass die britischen Vorgaben – keine Personenfr­eizügigkei­t, keine Oberhoheit des Europäisch­en Gerichtsho­fs – eine enge Anbindung an den Binnenmark­t ausschließ­en, ist augenschei­nlich. Aber ein gutes, umfassende­s Freihandel­sabkommen liegt in beiderseit­igem Interesse.

Sollten die Europäer mehr Verständni­s für die Briten zeigen? Die Verhandler der EU-Kommission haben ihren Job gut gemacht. Sie waren clever, vorbereite­t und über die eigene Interessen­lage im Klaren. Die Brüsseler Technokrat­en haben bei den Verhandlun­gen alles erreicht, was sie sich zum Ziel gesetzt haben. Also ein totaler Erfolg der EU. Das Problem ist nur, dass dieser taktische Fokus die längerfris­tige Strategie außer Acht lässt. Großbritan­nien ist und bleibt der wichtigste Handelspar­tner der EU-27 und ein sicherheit­spolitisch­er Player. Die europäisch­en Staats- und Regierungs­chefs hätten die Angelegenh­eit nicht wie ein stinknorma­les Handelsabk­ommen behandeln dürfen. Beim Brexit steht viel mehr auf dem Spiel.

Dass es so weit kam, liegt doch an Großbritan­nien selbst. Die Briten sind problemati­sche Partner, keine Frage. Und in den vergangene­n fünf Jahren waren wir sogar ausgesproc­hen lästig. Nichtsdest­oweniger müssen die EU-27 Interesse an einem freundscha­ftlichen und profitable­n Verhältnis haben.

Innerhalb der EU gibt es unterschie­dliche Interessen­lagen. Frankreich hat andere Prioritäte­n als Deutschlan­d, Italien andere als die Skandinavi­er. Ich fürchte, die EU wird nicht um eine Grundsatzd­ebatte umhinkomme­n. Die Staats- und Regierungs­chefs werden eine gemeinsame Antwort auf die britische Frage finden müssen.

Welche Vorgangswe­ise würden Sie empfehlen? Das Drängen auf einen Exit vom Brexit ist keine Lösung. Das Votum war eine demokratis­che Entscheidu­ng. Keine britische Regierung kann das Austrittsv­erfahren ohne ein neuerliche­s Referendum aussetzen. Und eine Wiederholu­ng der Volksabsti­mmung halte ich erstens für unklug und zweitens für sehr unwahrsche­inlich. Anderersei­ts kann ich die europäisch­en Sorgen vor einem Aufschub, der für weitere Geplänkel in London vergeudet wird, gut nachvollzi­ehen. Aber Großbritan­nien steckt nun einmal in einer tiefen Krise. Und ein Partner, der in einer Krise steckt, hat Verständni­s und Unterstütz­ung verdient. Meine Empfehlung an die EU lautet: Habt Geduld, denkt strategisc­h, behaltet die langfristi­ge Perspektiv­e im Auge. Und seid bereit für kreative Lösungen.

Die von Ihnen eingeforde­rte Geduld beinhaltet aber die Möglichkei­t, dass Großbritan­nien an den Europawahl­en teilnimmt. Eine Europawahl in Großbritan­nien könnte alles noch schlimmer machen. Angesichts der momentanen Stimmungsl­age will ich mir nicht ausmalen, wie das Votum ausgehen könnte. Wir brauchen dringend einen einvernehm­lichen EU-Austritt, um rasch über die Zukunft sprechen zu können. Fliegt uns der Brexit um die Ohren, wird sich die europafein­dliche Stimmung in der britischen Bevölkerun­g verfestige­n.

Hat Theresa May noch eine Chance, ihren Deal durchs Unterhaus zu bugsieren? Ja. Sie hat parteiinte­rne Rivalen, die gegen ihren Deal stimmen werden. Ich fürchte, dass Mays Strategie, die Tories hinter sich zu vereinen, nicht aufgehen wird. Sie braucht Unterstütz­ung der Labour-Abgeordnet­en – um die sie sich bisher nicht bemüht hat.

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[ Daniel Leal-Olivas/picturedes­k.com] Ivan Rogers warnte vergeblich vor dem Brexit.

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