Dringend gesucht: Das neue Wir
Soziologie. Heinz Bude, der Seismograf der deutschen Gesellschaft, hat ein Buch über Solidarität geschrieben. Warum es ein gefährlicher Begriff ist, den wir in der Politik trotzdem genau jetzt brauchen. Und wie sie sich neu wecken lässt.
Die Presse: Solidarität klingt angestaubt. Man denkt an hochgereckte Fäuste von Fabrikarbeitern mit rußigen Gesichtern. Warum ist das Thema für Sie so aktuell? Heinz Bude: Wir können nicht mehr sagen: Die Einzelnen müssen schauen, wie sie durchkommen. Wir sind auf andere angewiesen. Und die Idee der Solidarität ist: Wir wollen auch aufeinander angewiesen sein.
Hochgehalten wird der Begriff heute nur von Rechtspopulisten, die eine exklusive Solidarität meinen, Schutz vor Fremden. Solidarität ist ein gefährlicher Begriff, weil er immer ein „Wir“voraussetzt. Es ist ja gut, wenn die Leute füreinander einstehen, sich Bindung und Schutz geben. Dass es so nach rechts läuft, liegt an der Vorstellung: Wir sind verraten worden, müssen Rache nehmen. Die politische Mitte und die Linken stehen dem hilflos gegenüber. Sie kapieren nicht, was in der Gesellschaft rumort. Die Linken bieten nur an, die Verlierer stärker abzufinden. Die Leute wollen aber keine Kompensation. Solidarität ist ein sehr gutes Thema, um die leer gewordene Mitte neu zu besetzen. Sie kann als Thema auch die Konservativen renovieren, die auf Subsidiarität setzen. Ich plädiere dafür, den Begriff stark zu machen, auch wenn er gefährlich ist.
Politiker aus dem linken Spektrum setzen aber lieber auf „soziale Gerechtigkeit“. . .
Die Frage der Gerechtigkeit ist: Was steht dir zu? Die Solidarität fragt: Wie kommen wir miteinander weiter? Es ist ein ganz großer Fehler, dass sich die sozialdemokratischen Parteien völlig auf soziale Gerechtigkeit kapriziert haben – obwohl Solidarität das Prinzip der Arbeiterbewegung war.
Wähler der Rechtspopulisten sagen: Migranten tun nichts und kriegen mehr Sozialleistungen als wir. Auch wenn das falsch ist: Stimmt nicht das Prinzip? Solidargemeinschaften funktionieren nur, wenn sie Trittbrettfahren verhindern.
Natürlich. Solidarität ist keine Einbahnstraße, es geht immer um wechselseitige Hilfe. Viele Leute merken: Sie brauchen sich nur als hilfsbedürftig attribuieren lassen, und schon kriegen sie etwas. Sie werden nicht mehr gefragt: Was trägst du dafür bei, dass wir dir unter die Arme greifen?
Was wurde aus der Idee der Solidarität?
Der Wiederaufbau war eine große Solidaritätsressource. Der Blick zurück ist weg. Die Idee von Schröder in Deutschland war: Solidarität nach vorn zu entwickeln. Wir strengen uns gemeinsam an, um die Konkurrenzfähigkeit in einer globalisierten Welt zu steigern. Diese Botschaft hat wahnsinnig gut geklappt. Der Erfolg war aber so groß, dass er die Gesellschaft gespalten hat: Viele haben viel gewonnen. Und andere, die sich genauso angestrengt haben, deutlich weniger. Man hat Schröder eine „Diktatur der Beteiligung“vorgeworfen, weil er Arbeitslose in einen neuen Niedriglohnsektor gedrängt hat. Diese Leute arbeiten viel und kriegen dafür wenig. Aber deshalb debattieren wir ja jetzt über die Wertigkeit von Arbeit: Einfache Dienstleistung ist viel wertvoller, als wir gedacht haben. Auch wenn ihr Beitrag nach harten Produktivitätskriterien nicht groß ist.
Nimmt die Solidarität tatsächlich ab?
Was abnimmt, ist die gefühlte, geteilte Solidarität. Statt am Vereinssport Freude zu ha- ben, ertüchtigen sich die meisten allein, zur Optimierung des eigenen Körpers. Das Füreinander-einstehen-Wollen geht zurück. Aber in ihrer anonymen Form – und damit auch insgesamt – nimmt die Solidarität zu.
Anonyme Solidarität, das ist vor allem der Sozialstaat. Die Ausgaben für ihn wachsen weiter. So wird Solidarität zum in Geld gegossenen Grundkonsens. Man muss nicht dauernd über sie reden. Warum darf der Begriff nicht einfach verblassen?
Weil immer wieder die Frage nach den Kosten und ihrer Erbringung gestellt wird. Das finde ich auch gut so. Oft sagen Leute mit einigem Recht: Das System führt zum Trittbrettfahren. Natürlich gibt es das. Wenn es zu viel wird, ist es zu korrigieren – aber aus einem solidarischen Geist. Denn die Ge- rechtigkeitslogik des Wohlfahrtsstaats ist auf eine Solidaritätslogik der Zivilgesellschaft angewiesen. Man muss in sozialen Anspruchsrechten einen Sinn sehen, ihre Finanzierung auch wollen. Sonst zerfällt die Legitimität dieser Wohlfahrtsmaschine.
Wie soll ein neues Wir-Gefühl entstehen?
Es gibt heute einen Kampf von drei Formen des Kapitalismus um die Zukunft der Welt: dem autoritären in China, dem entbindenden in Amerika und dem eingebetteten in Europa. Hier können wir ein „Wir“aufrufen: Wie gehen wir in diese Auseinandersetzung, wie bündeln wir unsere Kräfte? – weil wir glauben, dass unser Modell das bessere ist, weil es mehr Leute mitnimmt.
Konkret: Wie weckt man bei einem jungen Wissensarbeiter in der Großstadt, der erfolgsabhängig bezahlt wird und sehr gut verdient, Solidaritätsgefühl für die Altenpflegerin oder den Amazon-Boten?
Indem man ihm freundlich vor Augen führt: Du willst deine Kräfte entwickeln, immer al- les geben und hältst nichts von kollektiver Interessenvertretung – das können wir verstehen. Aber du wirst älter, willst später zwei Kinder haben, und dann bist du auf andere angewiesen. Das hat etwas Entlastendes: Du musst nicht immer auf der Spitze deiner Möglichkeiten stehen. Du brauchst nicht in der ständigen Angst zu leben, dass du es nicht schaffst. So entwickelt sich das Motiv der Solidarität aus dem Ich – ohne vorgegebenes Kollektiv, ohne Klassen oder Berufsstände, die es nicht mehr gibt. Eine neue Solidarität muss durch das Nadelöhr des Ich, sonst kommt man politisch nicht weiter.
Wenn ich nicht helfe, kann ich auch keine Hilfe von anderen erwarten: Das ist doch nur eine höhere Form von Egoismus . . .
Ja, das war der Ansatz von Rawls: Wie bringt man rationale Egoisten dazu, dass sie etwas für andere tun? Das macht man zur Norm. Davon will ich weg. Normative Argumentation braucht einen existenziellen Boden.
Sie berufen sich dabei auf Camus, auf die Erfahrung der Einsamkeit. Wenn ich es simpel zusammenfasse: Sei solidarisch, sonst bleibst du allein zurück, und das ist nicht schön für dich – ist das zu banal?
Nein, prima. Wenn ich eine Partei gründen wollte, würde ich es so sagen. Es geht um existenzielle Tatbestände, die jeder versteht.
Warum betrifft die Botschaft so viele?
Wir sind an einen Nullpunkt gekommen, mit dieser überzogenen Idee des Ich als starkes Selbst, für das Welt nur das Ergebnis seiner Entscheidungen ist. Es findet sich plötzlich wieder als ein von Angst geschütteltes Selbst. Jetzt rebelliert es gegen die Situation, in das es sich selbst gebracht hat.
Also nicht gegen „neoliberale“Politiker?
Ich will weg von der Elitenschelte. Thatcher, Reagan, Blair, Clinton, Schröder – sie sind nicht durch einen Putsch an die Macht gekommen. Die Welt hat sich verändert, die Politik hat gut darauf reagiert, aber dabei ist auch Schlechtes herausgekommen. Vielleicht haben wir uns gemeinsam getäuscht. Dieser Irrwitz: dass alles vom Ich ausgeht – wie sind wir darauf gekommen? Wenn wir die Enttäuschung über uns selbst zum politischen Programm machen, könnten wir als moderne Demokratie reifen.
Man muss in sozialen Anspruchsrechten einen Sinn sehen, ihre Finanzierung auch wollen. Sonst zerfällt die Legitimität dieser Wohlfahrtsmaschine. So entwickelt sich das Motiv der Solidarität aus dem Ich – ohne Kollektiv, ohne Klassen oder Berufsstände. Eine neue Solidarität muss durch das Nadelöhr des Ich.