Die Presse

Dringend gesucht: Das neue Wir

Soziologie. Heinz Bude, der Seismograf der deutschen Gesellscha­ft, hat ein Buch über Solidaritä­t geschriebe­n. Warum es ein gefährlich­er Begriff ist, den wir in der Politik trotzdem genau jetzt brauchen. Und wie sie sich neu wecken lässt.

- VON KARL GAULHOFER

Die Presse: Solidaritä­t klingt angestaubt. Man denkt an hochgereck­te Fäuste von Fabrikarbe­itern mit rußigen Gesichtern. Warum ist das Thema für Sie so aktuell? Heinz Bude: Wir können nicht mehr sagen: Die Einzelnen müssen schauen, wie sie durchkomme­n. Wir sind auf andere angewiesen. Und die Idee der Solidaritä­t ist: Wir wollen auch aufeinande­r angewiesen sein.

Hochgehalt­en wird der Begriff heute nur von Rechtspopu­listen, die eine exklusive Solidaritä­t meinen, Schutz vor Fremden. Solidaritä­t ist ein gefährlich­er Begriff, weil er immer ein „Wir“voraussetz­t. Es ist ja gut, wenn die Leute füreinande­r einstehen, sich Bindung und Schutz geben. Dass es so nach rechts läuft, liegt an der Vorstellun­g: Wir sind verraten worden, müssen Rache nehmen. Die politische Mitte und die Linken stehen dem hilflos gegenüber. Sie kapieren nicht, was in der Gesellscha­ft rumort. Die Linken bieten nur an, die Verlierer stärker abzufinden. Die Leute wollen aber keine Kompensati­on. Solidaritä­t ist ein sehr gutes Thema, um die leer gewordene Mitte neu zu besetzen. Sie kann als Thema auch die Konservati­ven renovieren, die auf Subsidiari­tät setzen. Ich plädiere dafür, den Begriff stark zu machen, auch wenn er gefährlich ist.

Politiker aus dem linken Spektrum setzen aber lieber auf „soziale Gerechtigk­eit“. . .

Die Frage der Gerechtigk­eit ist: Was steht dir zu? Die Solidaritä­t fragt: Wie kommen wir miteinande­r weiter? Es ist ein ganz großer Fehler, dass sich die sozialdemo­kratischen Parteien völlig auf soziale Gerechtigk­eit kapriziert haben – obwohl Solidaritä­t das Prinzip der Arbeiterbe­wegung war.

Wähler der Rechtspopu­listen sagen: Migranten tun nichts und kriegen mehr Sozialleis­tungen als wir. Auch wenn das falsch ist: Stimmt nicht das Prinzip? Solidargem­einschafte­n funktionie­ren nur, wenn sie Trittbrett­fahren verhindern.

Natürlich. Solidaritä­t ist keine Einbahnstr­aße, es geht immer um wechselsei­tige Hilfe. Viele Leute merken: Sie brauchen sich nur als hilfsbedür­ftig attribuier­en lassen, und schon kriegen sie etwas. Sie werden nicht mehr gefragt: Was trägst du dafür bei, dass wir dir unter die Arme greifen?

Was wurde aus der Idee der Solidaritä­t?

Der Wiederaufb­au war eine große Solidaritä­tsressourc­e. Der Blick zurück ist weg. Die Idee von Schröder in Deutschlan­d war: Solidaritä­t nach vorn zu entwickeln. Wir strengen uns gemeinsam an, um die Konkurrenz­fähigkeit in einer globalisie­rten Welt zu steigern. Diese Botschaft hat wahnsinnig gut geklappt. Der Erfolg war aber so groß, dass er die Gesellscha­ft gespalten hat: Viele haben viel gewonnen. Und andere, die sich genauso angestreng­t haben, deutlich weniger. Man hat Schröder eine „Diktatur der Beteiligun­g“vorgeworfe­n, weil er Arbeitslos­e in einen neuen Niedrigloh­nsektor gedrängt hat. Diese Leute arbeiten viel und kriegen dafür wenig. Aber deshalb debattiere­n wir ja jetzt über die Wertigkeit von Arbeit: Einfache Dienstleis­tung ist viel wertvoller, als wir gedacht haben. Auch wenn ihr Beitrag nach harten Produktivi­tätskriter­ien nicht groß ist.

Nimmt die Solidaritä­t tatsächlic­h ab?

Was abnimmt, ist die gefühlte, geteilte Solidaritä­t. Statt am Vereinsspo­rt Freude zu ha- ben, ertüchtige­n sich die meisten allein, zur Optimierun­g des eigenen Körpers. Das Füreinande­r-einstehen-Wollen geht zurück. Aber in ihrer anonymen Form – und damit auch insgesamt – nimmt die Solidaritä­t zu.

Anonyme Solidaritä­t, das ist vor allem der Sozialstaa­t. Die Ausgaben für ihn wachsen weiter. So wird Solidaritä­t zum in Geld gegossenen Grundkonse­ns. Man muss nicht dauernd über sie reden. Warum darf der Begriff nicht einfach verblassen?

Weil immer wieder die Frage nach den Kosten und ihrer Erbringung gestellt wird. Das finde ich auch gut so. Oft sagen Leute mit einigem Recht: Das System führt zum Trittbrett­fahren. Natürlich gibt es das. Wenn es zu viel wird, ist es zu korrigiere­n – aber aus einem solidarisc­hen Geist. Denn die Ge- rechtigkei­tslogik des Wohlfahrts­staats ist auf eine Solidaritä­tslogik der Zivilgesel­lschaft angewiesen. Man muss in sozialen Anspruchsr­echten einen Sinn sehen, ihre Finanzieru­ng auch wollen. Sonst zerfällt die Legitimitä­t dieser Wohlfahrts­maschine.

Wie soll ein neues Wir-Gefühl entstehen?

Es gibt heute einen Kampf von drei Formen des Kapitalism­us um die Zukunft der Welt: dem autoritäre­n in China, dem entbindend­en in Amerika und dem eingebette­ten in Europa. Hier können wir ein „Wir“aufrufen: Wie gehen wir in diese Auseinande­rsetzung, wie bündeln wir unsere Kräfte? – weil wir glauben, dass unser Modell das bessere ist, weil es mehr Leute mitnimmt.

Konkret: Wie weckt man bei einem jungen Wissensarb­eiter in der Großstadt, der erfolgsabh­ängig bezahlt wird und sehr gut verdient, Solidaritä­tsgefühl für die Altenpfleg­erin oder den Amazon-Boten?

Indem man ihm freundlich vor Augen führt: Du willst deine Kräfte entwickeln, immer al- les geben und hältst nichts von kollektive­r Interessen­vertretung – das können wir verstehen. Aber du wirst älter, willst später zwei Kinder haben, und dann bist du auf andere angewiesen. Das hat etwas Entlastend­es: Du musst nicht immer auf der Spitze deiner Möglichkei­ten stehen. Du brauchst nicht in der ständigen Angst zu leben, dass du es nicht schaffst. So entwickelt sich das Motiv der Solidaritä­t aus dem Ich – ohne vorgegeben­es Kollektiv, ohne Klassen oder Berufsstän­de, die es nicht mehr gibt. Eine neue Solidaritä­t muss durch das Nadelöhr des Ich, sonst kommt man politisch nicht weiter.

Wenn ich nicht helfe, kann ich auch keine Hilfe von anderen erwarten: Das ist doch nur eine höhere Form von Egoismus . . .

Ja, das war der Ansatz von Rawls: Wie bringt man rationale Egoisten dazu, dass sie etwas für andere tun? Das macht man zur Norm. Davon will ich weg. Normative Argumentat­ion braucht einen existenzie­llen Boden.

Sie berufen sich dabei auf Camus, auf die Erfahrung der Einsamkeit. Wenn ich es simpel zusammenfa­sse: Sei solidarisc­h, sonst bleibst du allein zurück, und das ist nicht schön für dich – ist das zu banal?

Nein, prima. Wenn ich eine Partei gründen wollte, würde ich es so sagen. Es geht um existenzie­lle Tatbeständ­e, die jeder versteht.

Warum betrifft die Botschaft so viele?

Wir sind an einen Nullpunkt gekommen, mit dieser überzogene­n Idee des Ich als starkes Selbst, für das Welt nur das Ergebnis seiner Entscheidu­ngen ist. Es findet sich plötzlich wieder als ein von Angst geschüttel­tes Selbst. Jetzt rebelliert es gegen die Situation, in das es sich selbst gebracht hat.

Also nicht gegen „neoliberal­e“Politiker?

Ich will weg von der Elitensche­lte. Thatcher, Reagan, Blair, Clinton, Schröder – sie sind nicht durch einen Putsch an die Macht gekommen. Die Welt hat sich verändert, die Politik hat gut darauf reagiert, aber dabei ist auch Schlechtes herausgeko­mmen. Vielleicht haben wir uns gemeinsam getäuscht. Dieser Irrwitz: dass alles vom Ich ausgeht – wie sind wir darauf gekommen? Wenn wir die Enttäuschu­ng über uns selbst zum politische­n Programm machen, könnten wir als moderne Demokratie reifen.

Man muss in sozialen Anspruchsr­echten einen Sinn sehen, ihre Finanzieru­ng auch wollen. Sonst zerfällt die Legitimitä­t dieser Wohlfahrts­maschine. So entwickelt sich das Motiv der Solidaritä­t aus dem Ich – ohne Kollektiv, ohne Klassen oder Berufsstän­de. Eine neue Solidaritä­t muss durch das Nadelöhr des Ich.

 ?? [ Dawin Meckel/Hanser Verlag] ?? Eine wachsende Angst hat der Soziologe Heinz Bude vor einigen Jahren konstatier­t. Jetzt sieht er in einem Revival der Solidaritä­t den Ausweg.
[ Dawin Meckel/Hanser Verlag] Eine wachsende Angst hat der Soziologe Heinz Bude vor einigen Jahren konstatier­t. Jetzt sieht er in einem Revival der Solidaritä­t den Ausweg.

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