Was heißt schon falsch verstehen?
L esen
Sie täglich ein Gedicht“, hat Schriftsteller Janko Ferk in einem „Presse“-Gastkommentar geschrieben, ein Versuch, die Lyrik aus der „ungeliebten Nische“der Literatur herauszuholen. Das tägliche Gedicht hat Ähnlichkeiten mit dem täglichen Apfel, beides tut gut, aber man will nicht unbedingt dazu aufgefordert werden, es bekommt so eine verpflichtende Note wie das tägliche Zähneputzen. Das nimmt dem Apfel und der Lyrik das Begehrenswerte.
Mit dem Hang zur Melodie, zum Reim kommt man auf die Welt, Kinder können sich dem Sog kaum entziehen, lieben den Rhythmus und die Freude, die gut Gereimtes auslöst. Die Verse von Wilhelm Busch bleiben in Erinnerung, nicht nur, weil der Opa sie fröhlich vorgetragen hat. Viele verlieren das Interesse am Gedicht dann im Lauf der Schule. Gedichtinterpretationen können langweilig sein, schwierig manchmal, bis hin zur völligen Unverständlichkeit. Nicht selten hat sich das Gedicht, zumindest das komplexe, dann für einen erledigt.
Manche Dinge kann man nicht erklären, nur spüren. Man kann auch Musik nicht schönreden, oder Essen, oder Duft. Wer den Eindruck hat, etwas nicht zu verstehen, blockiert die unbeschwerte Aufnahme. Und was heißt falsch verstanden? Die Tradition des falsch Verstehens ist mit der Literatur untrennbar verbunden. Ingeborg Bachmanns Satz „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ist so oft und sinnentstellt zitiert worden, vor allem in der Politik, dass darüber Uni-Arbeiten geschrieben werden könnten. Und wer sich bei der im Frühling gern bemühten Zeile „April ist der grausamste Monat“im Pollentaumel getröstet fühlt, tut T. S. Eliot, dem es um böses Erwachen und bittere Leere in einem neuen Jahrhundert ging, auch Unrecht.
Fast hundert Jahre ist das her. Junge Menschen werden sich in seinem packenden „Waste Land“wiederfinden. Wenn man es sie finden lässt. Es muss sich nicht alles erklären, das Gefühl, worum es geht, erschließt sich jeder offenen Seele.