Wo Europa noch stark ist
Weltwirtschaft. Chinas schiere Größe und die Innovationskraft der USA scheinen Europa zu erdrücken. Dabei schlägt sich der alte Kontinent in vielen Branchen immer noch gut.
Krisenstimmung in Europas Industrienation Nummer eins: Die Geschäfte der deutschen Betriebe laufen im März so schlecht wie seit sechseinhalb Jahren nicht mehr, warnen die Unternehmer. Das nährt die Sorge bei Ökonomen und Politikern, dass der alte Kontinent vom riesigen China und den innovativen USA abgehängt werden könnte. Schließlich fallen mit Huawei, Tesla, Google, Alibaba, Tencent, Facebook oder Amazon nur noch Namen aus dem Silicon Valley oder aus Fernost, wenn es um Zukunftstechnologien geht.
Die harten Zahlen sagen aber etwas anderes. Gemessen an der Kaufkraft ist China heute der weltgrößte Wirtschaftsraum. Auf reiner Dollar-Basis bleibt die Krone in den USA. Platz zwei sichert sich allerdings in beiden Fällen die EU. Doch wie sieht die Situation in den wichtigsten Industrien aus?
Autoindustrie
Eine dieser Kernbranchen ist die Autoindustrie. Sie beschäftigt europaweit 13,3 Millionen Menschen und ist aufgrund der Zulieferungen nach Deutschland für Österreich besonders relevant. Nach wie vor produziert Europa knapp ein Viertel aller Autos weltweit und sorgt durch Exporte für einen Handelsbilanzüberschuss von 90 Milliarden Euro. BMWs, Audis und Mercedes werden überall gern gekauft. Und VW ist weiterhin der größte Autohersteller der Welt.
Dennoch gab es zuletzt die Sorge, dass die europäischen Hersteller den Übergang zur Elektromobilität verschlafen könnten. Tesla und die chinesischen Produzenten waren hier lange Zeit wesentlich aktiver. Doch inzwischen hat man auch in Deutschland die E-Mobilität zum neuen Ideal erhoben. Und die Feuerkraft der europäischen Forschungsabteilungen ist in der Autobranche nach wie vor am höchsten. So gaben die EU-Hersteller zuletzt 61 Milliarden pro Jahr dafür aus – mehr als jene in den USA, Japan und China zusammen.
Maschinenbau
Neben Autos sind Maschinen aller Art ein typischer Exportschlager der europäischen Industrie. Mit 31 Prozent Anteil an der Weltproduktion ist Europa hier doppelt so groß wie die USA. Die rasante Aufholjagd Chinas ist in diesem Bereich aber nicht mehr zu ignorieren. Stammten 2006 gerade einmal elf Prozent aller weltweit verkauften Maschinen aus dem Reich der Mitte, waren es zuletzt bereits mehr als ein Drittel.
Auch hier sind es die Zukunftstechnologien, die Sorge bereiten. So war Europa bei erneuerbaren Energien lange Zeit eine Größe für sich. Inzwischen macht sich aber der Druck aus Asien bemerkbar. So halten die dänische Vestas und Siemens Gamesa beispielsweise bei Windturbinen noch die Spitzenplätze – die chinesische Xinjiang Goldwind holt allerdings stark auf. Und kein anderes Land baut mehr Windkraftanlagen als China. Diesen Heimvorteil nutzten chinesische Hersteller bereits bei Solaranlagen. Hier liefen sie den einstigen deutschen Vorreitern mit Dumpingpreisen den Rang ab. Heute kommen neun der zehn größten Fotovoltaikproduzenten aus China.
Technologie
Im Technologiebereich ist das Wehklagen bekannt: Europa hat kein Microsoft, kein Google, kein Baidu. Wer aber glaubt, der Kontinent spiele deshalb in der stark wachsenden Hightechwelt keine Rolle mehr, irrt dennoch. Bedrängt von den billigen Hardware-Produzenten aus China und den Software-Riesen aus den USA konnten die europäischen Firmen immerhin ein Viertel des globalen Markts verteidigen. Das liegt zum Teil an der deutschen SAP, die zwar die langweiligste Software der Welt produziert, sie dafür aber so gut wie jedem Unternehmen verkaufen kann. Und obwohl es schon lang keine Handys aus Europa mehr gibt, sind Ericsson und Nokia als Telekomausrüster immer noch dominant. Die Aussichten sind allerdings nicht sonderlich gut. Fließen in den USA ein Viertel und in China sogar ein Drittel aller Forschungsausgaben in die Entwicklung von IT-Produkten, sind es in Europa gerade einmal 13 Prozent. Entsprechend wenig tragen die europäischen Firmen auch zu den Zukunftstechnologien rund um künstliche Intelligenz und Robotik bei. Hier können sie dem Wettrennen zwischen China und den USA derzeit nur zusehen.
Chemieindustrie
Auch im Chemiebereich hat China in den vergangenen Jahren ein enormes Wachstum hingelegt und vereinnahmt heute 37 Prozent des Weltmarkts, während der Anteil Europas seit der Jahrtausendwende von 31 auf 16 Prozent gefallen ist. Allerdings ist diese Zahl trügerisch, weil durch den asiatischen Boom auch der globale Markt rasant gewachsen ist. In absoluten Zahlen legte die Produktion der europäischen Industrie ebenfalls leicht zu. Dennoch gibt man sich auch beim europäischen Industrieverband keinen Illusionen hin – China wolle auch technologisch die Führerschaft übernehmen.
Die Presse: In welchen Bereichen zählt Europa zur Spitze? Gabriel Felbermayr: Europa hat in vielen klassischen Industriezweigen Spitzenunternehmen. Gerade in Österreich und Deutschland, aber auch in Norditalien, der Schweiz, Frankreich. Zum Beispiel in der Pharmabranche. Und es gibt viele, viele Hidden Champions in den Nischen. Europa ist auch führend bei der Digitalisierung und Automatisierung in Fabriken. Die Automatisierung kommt in den Unternehmen an, das macht uns stark und wettbewerbsfähig. Das beschränkt sich nicht auf einzelne Branchen. Wir können das im Autozulieferbereich, der Gesundheit, Textilbranche, Pharma, in der Bauindustrie beobachten; sogar in der Schuhindustrie, wo früher arbeitsintensiv in Bangladesch produziert wurde und die jetzt kapitalintensiv nach Europa zurückkommt. Das wird dann nicht von Arbeitern gemacht, sondern von Maschinen.
Europa hat die alte Industrie, die USA die neue – das stimmt also nicht mehr? Es ist nicht sinnvoll, das zu trennen. Die Grenzen verschwimmen. Ist ein Auto ein Handy mit Rädern oder ein fahrbarer Verbrennungsmotor? Moderne Krankenhäuser – gehören die zur alten oder zur neuen Ökonomie? Europa ist viel besser, als man sich gemeinhin erzählt.
In Europa wird an European Champions gebastelt, also sehr großen Konzernen. Wie die Fusion von Siemens und Alstom. Die EU-Kommission hat sie abgelehnt – verstehen Sie die Bedenken? Absolut. Das Wettbewerbsrecht ist dazu da, den Wettbewerb zu schützen, und nicht die Wettbewerber. Alstom und Siemens könnten sich sofort zu einem Joint Venture zusammenschließen, um den Saudis Schnellzüge zu verkaufen. Sie können kooperieren, gerade im Ausland. Aber ein Monopol im Inland wäre falsch. So steigert man seine Wettbewerbsfähigkeit nicht.
Das Argument für die Fusion ist ja, dass damit ein riesiger Konzern entstehen würde, der der noch größeren Konkurrenz aus China die Stirn bieten kann. Siemens ist bereits ein riesiger Konzern. Klar wäre es für Siemens bequem, noch mehr Marktmacht zu haben, weil das Unternehmen dann mehr Profit machen könnte. Aber das Wettbewerbsrecht muss vor allem die Konsumenten schützen. Wir können diesen Firmen nicht erlauben, die europäischen Konsumenten auszubeuten, damit sie eine Kriegskasse anlegen können, mit der sie dann in anderen Märkten mit den Chinesen in den Preiswettbewerb gehen können. Das ist nicht im Interesse der Kunden.
Also brauchen wir keine europäischen Champions, wie sie sich der deutsche Wirtschaftsminister wünscht? Wir haben in Europa ein Wachstumsproblem. Nicht nur konjunkturell, sondern auf
Unternehmensebene. Es werden Start-ups gegründet, und dann gehen sie in die USA, um dort zu wachsen. Aber durch Fusionen Monopole zu entwickeln ist eine Sackgasse.
Welchen Anreiz hat ein internationaler Konzern, sich in Europa niederzulassen? Wir haben eine super Lebensqualität. Das ist etwas, was für die kosmopolitische Elite wichtig ist. Der soziale Frieden, die geringe Ungleichheit, der Sozialstaat. Wir haben gute staatliche Schulen. Das sind alles Standortfaktoren. Das Zweite ist das Humankapital. Wir haben im Durchschnitt eine sehr gut ausgebildete Bevölkerung. Die Schulsysteme sind nicht perfekt, aber es gibt wenig Ausschläge nach unten.
Es wird ja oft beklagt, dass wir in Europa zu wenig Exzellenz haben. Ja, wir haben kein MIT (Massachusetts Institute of Technology, Anm.) in Europa. Aber auch nicht viele Tausende Bildungseinrichtungen, die gar nichts taugen, wie in den USA. Die Community Colleges dort sind oft unter aller Kritik. Wir haben eine gute, breit ausgebildete Mitte, das schätzen Unternehmen. Europa hat auch eine sehr gute Gesundheitsindustrie, es kommen immer mehr Menschen, um sich bei uns behandeln zu lassen. Das können wir globalisieren. Und der Sozialstaat – ist der eher ein Kostenfaktor oder ein Standortvorteil? Beides gleichzeitig. Er erlaubt Arbeitnehmern und Unternehmern, ins Risiko zu gehen. Wenn eine Idee nicht funktioniert, sind sie nicht dem Elend ausgesetzt. Der Sozialstaat ist eine Versicherung.
Dabei gelten eher die Amerikaner als sehr risikofreudig, und die sind nicht gerade für üppige Sozialleistungen bekannt. Ja, der Sozialstaat hat eine Nebenwirkung. Vor allem, wenn er von Reich nach Arm umverteilt. Das führt dazu, dass Unternehmer oder Spitzenkräfte, die glauben, sehr gut verdienen zu können, in Länder mit niedrigen Steuern gehen.
Das ist also die Kehrseite des Sozialstaats? Die Steuern sind ja hoch, weil der Sozialstaat finanziert werden muss. Es gibt immer eine Kehrseite. Eine Sache ist, dass in manchen Segmenten die Anreize, einen Job aufzunehmen, zu klein sind, weil der Entzug der Sozialleistungen und das Steuersystem das zusätzliche Einkommen wieder auffressen, sodass wenig mehr Netto vom Brutto bleibt. An diesen Baustellen müssen wir arbeiten. Aber den Sozialstaat infrage zu stellen wäre kontraproduktiv. Er ist ein positiver Standortfaktor.