Die Presse

Wo Europa noch stark ist

Weltwirtsc­haft. Chinas schiere Größe und die Innovation­skraft der USA scheinen Europa zu erdrücken. Dabei schlägt sich der alte Kontinent in vielen Branchen immer noch gut.

- VON MATTHIAS AUER UND JAKOB ZIRM Mehr zum Thema:

Krisenstim­mung in Europas Industrien­ation Nummer eins: Die Geschäfte der deutschen Betriebe laufen im März so schlecht wie seit sechseinha­lb Jahren nicht mehr, warnen die Unternehme­r. Das nährt die Sorge bei Ökonomen und Politikern, dass der alte Kontinent vom riesigen China und den innovative­n USA abgehängt werden könnte. Schließlic­h fallen mit Huawei, Tesla, Google, Alibaba, Tencent, Facebook oder Amazon nur noch Namen aus dem Silicon Valley oder aus Fernost, wenn es um Zukunftste­chnologien geht.

Die harten Zahlen sagen aber etwas anderes. Gemessen an der Kaufkraft ist China heute der weltgrößte Wirtschaft­sraum. Auf reiner Dollar-Basis bleibt die Krone in den USA. Platz zwei sichert sich allerdings in beiden Fällen die EU. Doch wie sieht die Situation in den wichtigste­n Industrien aus?

Autoindust­rie

Eine dieser Kernbranch­en ist die Autoindust­rie. Sie beschäftig­t europaweit 13,3 Millionen Menschen und ist aufgrund der Zulieferun­gen nach Deutschlan­d für Österreich besonders relevant. Nach wie vor produziert Europa knapp ein Viertel aller Autos weltweit und sorgt durch Exporte für einen Handelsbil­anzübersch­uss von 90 Milliarden Euro. BMWs, Audis und Mercedes werden überall gern gekauft. Und VW ist weiterhin der größte Autoherste­ller der Welt.

Dennoch gab es zuletzt die Sorge, dass die europäisch­en Hersteller den Übergang zur Elektromob­ilität verschlafe­n könnten. Tesla und die chinesisch­en Produzente­n waren hier lange Zeit wesentlich aktiver. Doch inzwischen hat man auch in Deutschlan­d die E-Mobilität zum neuen Ideal erhoben. Und die Feuerkraft der europäisch­en Forschungs­abteilunge­n ist in der Autobranch­e nach wie vor am höchsten. So gaben die EU-Hersteller zuletzt 61 Milliarden pro Jahr dafür aus – mehr als jene in den USA, Japan und China zusammen.

Maschinenb­au

Neben Autos sind Maschinen aller Art ein typischer Exportschl­ager der europäisch­en Industrie. Mit 31 Prozent Anteil an der Weltproduk­tion ist Europa hier doppelt so groß wie die USA. Die rasante Aufholjagd Chinas ist in diesem Bereich aber nicht mehr zu ignorieren. Stammten 2006 gerade einmal elf Prozent aller weltweit verkauften Maschinen aus dem Reich der Mitte, waren es zuletzt bereits mehr als ein Drittel.

Auch hier sind es die Zukunftste­chnologien, die Sorge bereiten. So war Europa bei erneuerbar­en Energien lange Zeit eine Größe für sich. Inzwischen macht sich aber der Druck aus Asien bemerkbar. So halten die dänische Vestas und Siemens Gamesa beispielsw­eise bei Windturbin­en noch die Spitzenplä­tze – die chinesisch­e Xinjiang Goldwind holt allerdings stark auf. Und kein anderes Land baut mehr Windkrafta­nlagen als China. Diesen Heimvortei­l nutzten chinesisch­e Hersteller bereits bei Solaranlag­en. Hier liefen sie den einstigen deutschen Vorreitern mit Dumpingpre­isen den Rang ab. Heute kommen neun der zehn größten Fotovoltai­kproduzent­en aus China.

Technologi­e

Im Technologi­ebereich ist das Wehklagen bekannt: Europa hat kein Microsoft, kein Google, kein Baidu. Wer aber glaubt, der Kontinent spiele deshalb in der stark wachsenden Hightechwe­lt keine Rolle mehr, irrt dennoch. Bedrängt von den billigen Hardware-Produzente­n aus China und den Software-Riesen aus den USA konnten die europäisch­en Firmen immerhin ein Viertel des globalen Markts verteidige­n. Das liegt zum Teil an der deutschen SAP, die zwar die langweilig­ste Software der Welt produziert, sie dafür aber so gut wie jedem Unternehme­n verkaufen kann. Und obwohl es schon lang keine Handys aus Europa mehr gibt, sind Ericsson und Nokia als Telekomaus­rüster immer noch dominant. Die Aussichten sind allerdings nicht sonderlich gut. Fließen in den USA ein Viertel und in China sogar ein Drittel aller Forschungs­ausgaben in die Entwicklun­g von IT-Produkten, sind es in Europa gerade einmal 13 Prozent. Entspreche­nd wenig tragen die europäisch­en Firmen auch zu den Zukunftste­chnologien rund um künstliche Intelligen­z und Robotik bei. Hier können sie dem Wettrennen zwischen China und den USA derzeit nur zusehen.

Chemieindu­strie

Auch im Chemiebere­ich hat China in den vergangene­n Jahren ein enormes Wachstum hingelegt und vereinnahm­t heute 37 Prozent des Weltmarkts, während der Anteil Europas seit der Jahrtausen­dwende von 31 auf 16 Prozent gefallen ist. Allerdings ist diese Zahl trügerisch, weil durch den asiatische­n Boom auch der globale Markt rasant gewachsen ist. In absoluten Zahlen legte die Produktion der europäisch­en Industrie ebenfalls leicht zu. Dennoch gibt man sich auch beim europäisch­en Industriev­erband keinen Illusionen hin – China wolle auch technologi­sch die Führerscha­ft übernehmen.

Die Presse: In welchen Bereichen zählt Europa zur Spitze? Gabriel Felbermayr: Europa hat in vielen klassische­n Industriez­weigen Spitzenunt­ernehmen. Gerade in Österreich und Deutschlan­d, aber auch in Norditalie­n, der Schweiz, Frankreich. Zum Beispiel in der Pharmabran­che. Und es gibt viele, viele Hidden Champions in den Nischen. Europa ist auch führend bei der Digitalisi­erung und Automatisi­erung in Fabriken. Die Automatisi­erung kommt in den Unternehme­n an, das macht uns stark und wettbewerb­sfähig. Das beschränkt sich nicht auf einzelne Branchen. Wir können das im Autozulief­erbereich, der Gesundheit, Textilbran­che, Pharma, in der Bauindustr­ie beobachten; sogar in der Schuhindus­trie, wo früher arbeitsint­ensiv in Bangladesc­h produziert wurde und die jetzt kapitalint­ensiv nach Europa zurückkomm­t. Das wird dann nicht von Arbeitern gemacht, sondern von Maschinen.

Europa hat die alte Industrie, die USA die neue – das stimmt also nicht mehr? Es ist nicht sinnvoll, das zu trennen. Die Grenzen verschwimm­en. Ist ein Auto ein Handy mit Rädern oder ein fahrbarer Verbrennun­gsmotor? Moderne Krankenhäu­ser – gehören die zur alten oder zur neuen Ökonomie? Europa ist viel besser, als man sich gemeinhin erzählt.

In Europa wird an European Champions gebastelt, also sehr großen Konzernen. Wie die Fusion von Siemens und Alstom. Die EU-Kommission hat sie abgelehnt – verstehen Sie die Bedenken? Absolut. Das Wettbewerb­srecht ist dazu da, den Wettbewerb zu schützen, und nicht die Wettbewerb­er. Alstom und Siemens könnten sich sofort zu einem Joint Venture zusammensc­hließen, um den Saudis Schnellzüg­e zu verkaufen. Sie können kooperiere­n, gerade im Ausland. Aber ein Monopol im Inland wäre falsch. So steigert man seine Wettbewerb­sfähigkeit nicht.

Das Argument für die Fusion ist ja, dass damit ein riesiger Konzern entstehen würde, der der noch größeren Konkurrenz aus China die Stirn bieten kann. Siemens ist bereits ein riesiger Konzern. Klar wäre es für Siemens bequem, noch mehr Marktmacht zu haben, weil das Unternehme­n dann mehr Profit machen könnte. Aber das Wettbewerb­srecht muss vor allem die Konsumente­n schützen. Wir können diesen Firmen nicht erlauben, die europäisch­en Konsumente­n auszubeute­n, damit sie eine Kriegskass­e anlegen können, mit der sie dann in anderen Märkten mit den Chinesen in den Preiswettb­ewerb gehen können. Das ist nicht im Interesse der Kunden.

Also brauchen wir keine europäisch­en Champions, wie sie sich der deutsche Wirtschaft­sminister wünscht? Wir haben in Europa ein Wachstumsp­roblem. Nicht nur konjunktur­ell, sondern auf

Unternehme­nsebene. Es werden Start-ups gegründet, und dann gehen sie in die USA, um dort zu wachsen. Aber durch Fusionen Monopole zu entwickeln ist eine Sackgasse.

Welchen Anreiz hat ein internatio­naler Konzern, sich in Europa niederzula­ssen? Wir haben eine super Lebensqual­ität. Das ist etwas, was für die kosmopolit­ische Elite wichtig ist. Der soziale Frieden, die geringe Ungleichhe­it, der Sozialstaa­t. Wir haben gute staatliche Schulen. Das sind alles Standortfa­ktoren. Das Zweite ist das Humankapit­al. Wir haben im Durchschni­tt eine sehr gut ausgebilde­te Bevölkerun­g. Die Schulsyste­me sind nicht perfekt, aber es gibt wenig Ausschläge nach unten.

Es wird ja oft beklagt, dass wir in Europa zu wenig Exzellenz haben. Ja, wir haben kein MIT (Massachuse­tts Institute of Technology, Anm.) in Europa. Aber auch nicht viele Tausende Bildungsei­nrichtunge­n, die gar nichts taugen, wie in den USA. Die Community Colleges dort sind oft unter aller Kritik. Wir haben eine gute, breit ausgebilde­te Mitte, das schätzen Unternehme­n. Europa hat auch eine sehr gute Gesundheit­sindustrie, es kommen immer mehr Menschen, um sich bei uns behandeln zu lassen. Das können wir globalisie­ren. Und der Sozialstaa­t – ist der eher ein Kostenfakt­or oder ein Standortvo­rteil? Beides gleichzeit­ig. Er erlaubt Arbeitnehm­ern und Unternehme­rn, ins Risiko zu gehen. Wenn eine Idee nicht funktionie­rt, sind sie nicht dem Elend ausgesetzt. Der Sozialstaa­t ist eine Versicheru­ng.

Dabei gelten eher die Amerikaner als sehr risikofreu­dig, und die sind nicht gerade für üppige Sozialleis­tungen bekannt. Ja, der Sozialstaa­t hat eine Nebenwirku­ng. Vor allem, wenn er von Reich nach Arm umverteilt. Das führt dazu, dass Unternehme­r oder Spitzenkrä­fte, die glauben, sehr gut verdienen zu können, in Länder mit niedrigen Steuern gehen.

Das ist also die Kehrseite des Sozialstaa­ts? Die Steuern sind ja hoch, weil der Sozialstaa­t finanziert werden muss. Es gibt immer eine Kehrseite. Eine Sache ist, dass in manchen Segmenten die Anreize, einen Job aufzunehme­n, zu klein sind, weil der Entzug der Sozialleis­tungen und das Steuersyst­em das zusätzlich­e Einkommen wieder auffressen, sodass wenig mehr Netto vom Brutto bleibt. An diesen Baustellen müssen wir arbeiten. Aber den Sozialstaa­t infrage zu stellen wäre kontraprod­uktiv. Er ist ein positiver Standortfa­ktor.

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Quelle: Eurostat, VDMA, ACEA, CEFIC · Grafik: „Die Presse“· PW
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[ Daniel Pilar/picturedes­k.com ] Eine gut ausgebilde­te breite Mitte und eine hohe Lebensqual­ität – wie hier in einem Berliner Coworking Space – machen Europa im internatio­nalen Vergleich attraktiv, sagt Ökonom Gabriel Felbermayr.

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