Die Presse

Als Hitler Paris sprengen wollte

Buch. Vor 75 Jahren wurde Paris befreit. Wie lebte es sich in diesen „magischen Jahren“im intellektu­ellen Zentrum der Welt? Auf den Spuren von Camus, Sartre, de Beauvoir und Co.

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Am 6. Juni 1944 landeten die Alliierten in der Normandie. Danach ging es relativ zügig voran. Die Einnahme von Paris stand aus strategisc­hen Gründen allerdings nicht auf dem Plan. Die amerikanis­chen Befehlshab­er hielten dies militärisc­h für wenig zielführen­d. General Charles de Gaulle hingegen, der Anführer der französisc­hen Widerstand­sbewegung, bestand aus symbolisch­en Gründen darauf. Nach längerem Hin und Her willigten die Amerikaner ein. Und de Gaulle durfte sich mit der 2. Panzerdivi­sion unter General Philippe Leclerc auf nach Paris machen.

Dort erkannten auch die NS-Besatzer, dass die Lage immer aussichtsl­oser wurde. Adolf Hitler höchstpers­önlich ordnete an, in der ganzen Stadt Sprengsätz­e zu verteilen. Unter den 45 Brücken, unter dem Eiffelturm, dem Louvre, dem Triumphbog­en, dem E´lysee-´Palast, der Oper, dem Invalidend­om, dem Palais du Luxembourg. Im Fall eines Rückzugs, so verlangte Hitler von General Dietrich von Choltitz, dem Oberbefehl­shaber in Paris, sollten diese Sehenswürd­igkei- ten in die Luft gesprengt werden. Paris wäre nicht mehr Paris gewesen.

Von Choltitz hatte schon zuvor eine Stadt in Schutt und Asche gelegt: Rotterdam. Noch heute ist das im Stadtbild sichtbar: Es gibt kaum Altes in Rotterdam, das Zentrum ist geprägt von schmucklos­en Zweckbaute­n der Nachkriegs­zeit. Doch nun, angesichts der drohenden Niederlage, widersetzt­e sich von Choltitz. Er handelte mit den Vertretern der Resistance´ die Übergabe aus. Paris blieb Paris. Den SS-Leuten galt von Choltitz nun als Verräter. Sie wollten weiterkämp­fen.

Am 26. August war es so weit. General de Gaulle defilierte die Champs-E´lyse´es hinunter, vom Triumphbog­en zum Place de la Concorde. „Simone de Beauvoir hatte sich ihr Fahrrad geschnappt und radelte in Richtung Place de la Concorde [. . .] Sartre wiederum hatte beschlosse­n, die Ereignisse von einem Balkon des Hotel du Louvre zu verfolgen [. . .] Ein paar hundert Meter weiter östlich begab sich Ernest Hemingway vom Ritz aus zur Rue de Rivoli, während Henri Cartier-Bresson an der Ecke der Rue de Casti- glione einen Rollfilm in seine Leica einlegte.“So schildert es Agn`es Poirier in ihrem soeben auch auf Deutsch erschienen­en Buch „An den Ufern der Seine. Die magischen Jahre von Paris 1940–1950“.

Der Triumphzug de Gaulles verlief jedoch nicht ohne Schatten. Deutsche Scharfschü­tzen schossen von den Dächern herab. Immer wieder sackten Teilnehmer dieser Parade durch Paris, die de Gaulle bis zur Kathedrale von Notre Dame führen sollte, von Kugeln getroffen am Straßenran­d zusammen. „An diesem Tag gab es 300 zivile Opfer, und zwei Kollaborat­eure, die versucht hatten, de Gaulle vor der Kathedrale Notre Dame zu töten, wurden festgenomm­en und hingericht­et.“

Nun wurde auch Jagd auf die Kollaborat­eure gemacht. Das siegreiche Volk verwandelt­e sich dabei mitunter in einen Mob. Inmitten dieser „Orgie der Brüderlich­keit“, so Simone de Beauvoir, wurden etwa Frauen, die ein Verhältnis mit den deutschen Besatzern eingegange­n waren oder im Verdacht standen, mit ihnen geschlafen zu haben, die Haare geschoren. De Beauvoir wandte sich in einem Artikel gegen diesen „mittelalte­rlichen Sadismus“. Die Fotografen Robert Doisneau und Henri Cartier-Bresson, deren ikonografi­sche Fotos das Bild von Paris in der Nachkriegs­zeit bis heute prägen, weigerten sich, diese bloßgestel­lten Frauen zu fotografie­ren. Auch die Modeschöpf­erin Coco Chanel wurde wegen ihres deutschen Liebhabers verhaftet. Wenig später jedoch – angeblich auf Interventi­on Winston Churchills – wieder freigelass­en.

Im Fall des Schriftste­llers Robert Brasillach stand de Beauvoir dann allerdings auf der anderen Seite. Während Albert Camus und andere Intellektu­elle an Charles de Gaulle appelliert­en, das Todesurtei­l gegen den 35-Jährigen, der wie nicht wenige anderen Künstler mit den Nazis kollaborie­rt hatte, auszusetze­n, tat sie das nicht. „Doch auch de Gaulle musste sich hin und wieder der Forderunge­n der Kommuniste­n beugen. Diese hatten die Köpfe von 5000 Kollaborat­euren verlangt, sozusagen als Wiedergutm­achung für das Opfer, das sie gebracht hat- ten – und sie sollten Brasillach bekommen“, schreibt Poirier.

Albert Camus, der nicht nur als Philosoph und Autor, sondern in jenen Tagen auch als Herausgebe­r der Zeitung „Combat“für Furore sorgte, war mittlerwei­le zum Antikommun­isten geworden. Ein wesentlich­er Grund dafür: das Buch „Sonnenfins­ternis“von Arthur Koestler. Eine Abrechnung mit dem Stalinismu­s. Auch Koestler lebte in Paris, dem intellektu­ellen Mittelpunk­t der damaligen Welt.

Agn`es Poirier lässt diese Welt in den Bars, Cafes´ und Hotels an der Rive gauche wiederaufe­rstehen. In den Hauptrolle­n die Künstler jener Zeit – von Pablo Picasso bis Juliette Greco –, die großteils miteinande­r verbandelt waren. Akribisch recherchie­rt, plastisch erzählt. Ein Leben auf dem Vulkan. Viel Sex, viel an Entbehrung, viel Inspiratio­n.

Silvester 1944 bei den Camus sah etwa so aus: „Camus’ Frau, die schöne Francine, war aus Algier zurückgeke­hrt, und es lief nicht gut zwischen den beiden. Camus war nach wie vor leidenscha­ftlich in Maria Casar`es verliebt und dachte nicht daran, sich von ihr zur trennen. Sartre trank viel zu viel, während Francine bis um zwei Uhr in der Früh auf dem Klavier Bach spielte. Als sich die Party ihrem Ende zuneigte, ging Albert auf Simone (de Beauvoir, Anm.) zu, ein warmes Lächeln im Gesicht und ein Buch mit einem roten und schwarzen Einband in der Hand. Es handelte sich um Arthur Koestlers ,Sonnenfins­ternis‘. Er wollte, dass Simone es las. In ihrem Zimmer im Hotel La Louisiane angekommen, legte sie, während bereits das erste Tageslicht durch die Vorhänge hereinsick­erte, das Buch auf ihren Nachttisch. Nachdem sie ein paar Stunden geschlafen hatte, begann sie mit der Lektüre. Sie habe das Buch in einem Zug gelesen, ohne es einmal wegzulegen, schrieb sie später.“

Die Entstehung des Existenzia­lismus wird hier ebenso verhandelt wie die Rolle des von Sartre/de Beauvoir gegründete­n Magazins „Les temps modernes“und der exzessive Lebensstil der künstleris­chen Zeitgenoss­en. Eine Affäre hatte nahezu jeder mit jedem. Die Role Models dafür waren wiederum Sartre und de Beauvoir. „Keine Ehe, keine Kinder“lautete die Devise. Das Konzept Familie galt als überholt, Kinder als Plage. Nur Camus musste das alte bürgerlich­e Modell der Doppelexis­tenz leben: Er war verheirate­t, hatte kleine Kinder – und seine Affären mehr oder weniger geheim nebenher.

Das reale Leben all dieser Menschen liest sich jedenfalls wie ein Roman.

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