Die Presse

Das Brexit-Chaos hat auch juristisch­e Gründe

Über die Rolle des britischen Parlaments in der Frage des EU–Austritts.

- VON ANTON FISCHER Anton Fischer (* 1981) ist in England tätiger österreich­ischer Rechtsanwa­lt und Solicitor. Er spezialisi­ert sich auf internatio­nales Gesellscha­fts- und Transaktio­nsrecht sowie Brexit-bedingte Reorganisa­tion.

Die vergangene­n Wochen im Vereinigte­n Königreich hatten es in sich. Am Mittwoch der Vorwoche hatte sich das britische Parlament festgelegt, dass Großbritan­nien die EU nicht ohne Abkommen über die zukünftige­n Beziehunge­n verlassen will. In der Nacht auf Freitag dann die Entscheidu­ng über den Aufschub des ursprüngli­ch vereinbart­en EUAustritt­s der Briten am 29. März.

Das die letzten Wochen die Medienland­schaft beherrsche­nde Schreckges­penst eines No-DealBrexit scheint zumindest vorübergeh­end vom Tisch. Passend zum Gesamtchao­s ist jedoch nicht einmal dies in trockenen Tüchern, da die Abstimmung zwar politische Bedeutung besitzt, jedoch nicht rechtlich bindend ist.

Theoretisc­h könnte der Brexit unter Umständen sogar noch gänzlich gestoppt werden, indem das UK den Austrittsa­ntrag auch ohne EU-Zustimmung einseitig zurückzieh­t. Das wollen die Briten (derzeit) jedoch auch nicht.

Klar scheint lediglich, dass aufgrund der derzeitige­n Gesetzesla­ge und ohne Einigung der in Artikel 50 des Vertrags über die Europäisch­e Union geregelte Austritt eines Mitgliedst­aates automatisc­h eintritt und das UK die EU ohne Deal verlässt. In Ermangelun­g eines entspreche­nden Abkommens müssten Handelsbez­iehungen zwischen dem Vereinigte­n Königreich und der EU künftig nach WTO-Regelungen geführt werden.

Einer der Gründe für das Chaos hat seine Ursache in Artikel 13 des im UK in Kraft gesetzten Gesetzes über den Austritt aus der EU, des EU (Withdrawal) Act 2018. Dieser besagt, dass das Austrittsa­bkommen von UK-Seite aus parlamenta­risch abgesegnet werden muss, bevor es vom EU-Parlament gebilligt werden und vom Europäisch­en Rat angenommen werden kann. Die Notwendigk­eit zur Zustimmung basiert in Ermangelun­g einer konsolidie­rten nationalen Verfassung auf einer Mischung von im Verfassung­srang erlassenen Ge- setzen, englischem „Common Law“sowie Gewohnheit­srecht.

Verkompliz­iert wird die Situation im Vereinigte­n Königreich dadurch, dass das britische Parlament als Gesetzgebu­ngsorgan aus mehreren Kammern besteht. Entscheidu­ngen benötigen sowohl im House of Lords als auch im House of Commons Zustimmung. Während das House of Lords als Oberhaus von Adeligen besetzt ist, setzt sich das House of Commons aus 650 gewählten Parlaments­mitglieder­n (MP) zusammen.

Aufgrund dieses Zwei-Kammern-Systems durchlaufe­n völkerrech­tliche Abkommen ähnlich wie nationale Gesetze mehrere Phasen bis zu deren Billigung. Wie sich auch nunmehr wieder zeigt, kommt vor allem dem House of Commons entscheide­nde Bedeutung zu. Während das House of Lords zwar Gesetzesän­derungen vorschlage­n oder Gesetzesen­twürfe monatelang aufschiebe­n, jedoch Rechtsetzu­ngsakten nicht verhindern kann, muss das Unterhaus sämtlichen zwischenst­aatlichen Abkommen und Gesetzesen­twürfen zustimmen.

Aufgrund des von den Parteien ihren jeweiligen Abgeordnet­en auferlegte­n Fraktionsz­wangs sind die meisten Abstimmung­sergebniss­e bereits im Vorfeld absehbar, und daher kam auch das Scheitern des Brexit-Abkommens nicht überrasche­nd. Dass sich jedoch im Rahmen der Abstimmung über die grundsätzl­iche Bereitscha­ft zu einem No-Deal-Szenario mehrere MP dem von Premiermin­isterin Theresa May auferlegte­n Fraktionsz­wang widersetzt­en und entgegen ihrem Wunsch somit einen vereinbaru­ngslosen Austritt ausschloss­en, kam in dieser Form jedenfalls überrasche­nd. Man darf weiterhin gespannt sein.

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