Bei der Diagnose kindlicher Störungen hapert’s
Neurologie. Je später Störungen wie Autismus diagnostiziert werden, desto geringer sind die Chancen, ihre Schwere einzudämmen. Am neuen Forschungsinstitut für Entwicklungsmedizin RID wird an Instrumenten zur Früherfassung gefeilt.
Wenn ein Babykrokodil aus dem Ei schlüpft, schwimmt und frisst es gleich los. Fertig. Ein Mensch hingegen wird recht unzulänglich geboren und braucht lange Zeit Betreuung durch Bezugspersonen. Den Vergleich zieht der Linzer Neurologe und Psychiater Johannes Fellinger, einer der beiden Leiter des neu eröffneten ersten Forschungsinstituts für Entwicklungsmedizin in Österreich. „Unser Programm ist unfertig, wenn wir auf die Welt kommen“, erklärt er. „Die menschliche Entwicklung ist immer ein Zusammenspiel aus Anlage und Umwelt. Wir sind zwar mit vielen Chancen ausgestattet, aber es gibt viele Störfaktoren.“Diese können zu motorischen, sprachlichen, sozialen oder kognitiven Beeinträchtigungen führen.
Jedes zehnte Kind ist betroffen
Mindestens jedes zehnte Kind lebt mit einer Entwicklungsstörung. Diese wirken sich in vielen Fällen negativ auf die Bildungskarrieren der Betroffenen aus. Am neuen Forschungsinstitut RID (Research Institute for Developmental Medicine) der Medizinischen Fakultät der Johannes-Kepler-Universität in Linz, dem neben Fellinger der klinische Linguist Daniel Holzinger vorsteht, beschäftigen sich künftig gleich mehrere Projekte mit Entwicklungsstörungen. Und zwar sowohl mit deren Verläufen von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter als auch mit evidenzbasierten Interventionsmöglichkeiten.
Fellinger spricht von sogenannten dimensionalen Störungen. Das heißt, die Bandbreite ihrer Symptome sowie deren Schwere ist breit. „Bei Autismus ist diese enorm“, so der Neurologe und Psychiater. Ein Mensch mit Autismus-Spektrum-Störung kann sich den Kopf blutig schlagen und gar nicht kommunizieren oder wie die Umweltaktivistin Greta Thunberg – sie hat das Asperger-Syndrom, eine Variante des Autismus – mit ihrer Beharrlichkeit möglicherweise die Welt verändern. „Am Beispiel Greta sieht man auch die Stärken von Entwicklungsh erausforderungen unabhängig davon, dass Betroffene vielleicht Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion haben“, sagt Fellinger.
Um im Verlauf der Entwicklung möglichst viele umweltbedingte Störfaktoren auszuschalten, braucht es die richtige Förderung zur richtigen Zeit. Richtig meint dabei vor allem früh. Problematisch sind vermeintlich unsichtbare Störungen, die häufig viel zu spät entdeckt würden. „Das Diagnosealter bei Autismus liegt in Deutschland bei fünf Jahren. Aber schon mit zwei Jahren könnte man diese Störung sehr präzise feststellen, und es gibt auch Behandlungsmöglichkeiten, die eine Veränderung der Ausprägungsschwere eindeutig und belegbar bewirken.“
Das Um und Auf sei also die Früherfassung. „Der Mutter-KindPass kann das in seiner jetzigen Form nicht leisten“, sagt Fellinger. „Da müsste man viel genauer schauen.“Treffsichere und taugliche Screeningverfahren würden allerdings fehlen. Am neuen Forschungsinstitut will Fellinger ein entsprechendes Stufenprogramm für den deutschen Sprachraum entwickeln. Ein weiterer Fokus des Zentrums liegt auf der Schulung von Kinderärzten.
Ein Symptom für eine Autismus-Spektrum-Störung, das schon sehr früh beobachtet werden kann, ist das Fehlen einer gemeinsamen Aufmerksamkeit. „Wenn die Bezugsperson lächelt, lächelt das Kind zurück“, so Fellinger. „Oder man zeigt auf einen Ball und das Kind folgt dem Blick. Wenn dieses Verhalten ausbleibt, ist das ein Hinweis, dass die soziale Interaktion gestört ist.“Davon sei auch die Sprachentwicklung beeinflusst. Mindestens ein Drittel der Kinder mit Verzögerungen in der Sprachentwicklung wiederum haben ebenfalls Schwierigkeiten mit ihrer Aufmerksamkeitssteuerung. Kurz gesagt, eine Entwicklungsstörung kommt selten allein.
Die Verbindung zwischen Forschung und Praxis soll am neuen Zentrum Programm sein: „Die praktische Arbeit ist die Quelle der Forschungsfragen.“Dabei wolle man translational sein, also die wissenschaftlichen Erkenntnisse rasch in die klinische Entwicklung bringen. Gestartet wird keineswegs bei null. Grundlage für das RID ist die klinische und wissenschaftliche Arbeit des Instituts für Sinnesund Sprachneurologie der Barmherzigen Brüder Linz, dem Fellinger vorsteht. Der Konvent finanziert die ersten sechs Jahre des neuen Zentrums. Die bisherige Arbeit wird damit auch universitär verankert.
Persönliche Beziehungsarbeit
„Eigentlich behandeln wir Eltern“, sagt Fellinger. „Die moderne Kleinfamilie ist oft sehr allein gelassen.“Deshalb sei eine Vision seiner Arbeit, Eltern dabei zu unterstützen, ihre Elternschaft glücklich und kompetent leben zu können – davon würden auch die Kinder profitieren. Beispiel dafür sei etwa ein 2003 installiertes oberösterreichisches Projekt zur familienzentrierten Frühintervention bei Kindern mit Hörschädigung. „Wir machen unter anderem wöchentliche Hausbesuche und haben beobachtet, dass sich der Weg von betroffenen Kindern aus Familien mit einem sozial schwierigen Hintergrund so begleitet fast besser gestaltet als jener von Kindern ohne Hörschädigung aus einer ähnlichen Schicht“, so Fellinger.