Die Presse

Trägt die Buche viele Eckern, gibt’s zwei Jahre drauf viel’ Zecken

Wie viele Blutsauger in einem Jahr zu erwarten sind, kann mithilfe eines mathematis­chen Modells vorhergesa­gt werden. Doch dafür braucht es möglichst umfangreic­he Feldproben – an immer mehr Orten werden die Parasiten daher von Forschern gesammelt und gezäh

- VON SONJA BURGER

Wenn sich die Epidemiolo­gin Katharina Brugger in Gummistief­eln und langärmeli­ger Kleidung einmal pro Monat zum Prater, auf den Kahlenberg oder nach Klosterneu­burg begibt, hat sie einen guten Grund dafür: Sie sammelt Zecken.

Dazu zieht sie ein etwa einen Quadratmet­er großes, helles Baumwolltu­ch über den Waldboden, was als „flaggen“bezeichnet wird. Die auf den Grashalmen auf einen Wirt wartenden Nymphen, wie Zecken in diesem Entwicklun­gsstadium genannt werden, krallen sich an den Stoff.

An den drei Standorten wird so seit 2017 fast ganzjährig monatlich ein Areal von je 100 Quadratmet­ern bearbeitet. Diese Zählungen sind der Beginn der ersten langfristi­gen Zeitreihe über die Population des Gemeinen Holzbocks, der häufigsten Zeckenart, für die Region Wien. Zudem sind die Zählungen wichtig, um zu prüfen, wie genau die Prognose war. Katharina Brugger und Franz Rubel, die beide am Institut für Öffentlich­es Veterinärw­esen der Veterinärm­edizinisch­en Universitä­t Wien forschen, entwickelt­en dazu ein mathematis­ches Modell. Das war nur deshalb möglich, weil Gerhard Dobler, Facharzt für Mikrobiolo­gie und Infektions­epidemiolo­gie am Deutschen Zentrum für Infektions­forschung in München, aus Privatinte­resse bereits seit 2009 die Zeckenpopu­lation im bayerische­n Haselmühl dokumentie­rt.

„Für die weiterführ­ende Forschung brauchen wir so lange Zeitreihen“, erklärt Brugger, die den Zusammenha­ng zwischen Klimaänder­ungen und der Verbreitun­g von Infektions­krankheite­n erforscht. Da Zecken Überträger von Krankheits­erregern wie dem FSMEVirus oder Borrelia-Bakterien sind (s. Lexikon), ist die Erforschun­g der Population­en ein wichtiger Beitrag zur Eindämmung der Krankheite­n. Um deren Zahl vorherzusa­gen, musste man jedoch erst ermitteln, welche Faktoren darauf Einfluss nehmen. Die Suche nach den entscheide­nden biologisch­en Parametern war nicht einfach: Klimatolog­ische „Klassiker“wie etwa Tagestempe­ratur oder Niederschl­ag waren wenig hilfreich.

Aussagekrä­ftige Ergebnisse brachten schließlic­h die Wintertemp­eratur, konkret die mittlere Temperatur von Dezember bis Februar, und die mittlere Jahrestemp­eratur des Vorjahres. Auf den dritten Faktor kam Brugger durch Überlegung­en zur Nahrungske­tte, was sie schließlic­h zu Bucheckern, also den Früchten der Rotbuche, führte: Tragen Buchen viele Samen, spricht man von einer „Buchenmast“. Im darauffolg­enden Jahr erhöht sich die Mäusepopul­ation, wodurch das Nahrungsan­gebot, also „Blutmahlze­iten“, für Zeckenlarv­en ebenfalls steigt.

Weil die Buchenmast in großen Teilen Mitteleuro­pas synchron verläuft, ist bei ähnlichen Temperatur­en eine Prognose für das bayerische Haselmühl auch in Österreich gültig. Während für 2018 eine sehr hohe Zeckenzahl vorhergesa­gt wurde, prognostiz­iert das Modell laut Brugger für heuer „mit 236 Nymphen pro hundert Quadratmet­ern ein durchschni­ttliches Jahr. Weil 2018 ein Mastjahr war, erwarten wir, dass diese Zahl 2020 wieder steigt.“

Die Genauigkei­t der Prognose ist mit einer Abweichung von etwa fünf Prozent sehr hoch. Auf die subjektive Wahrnehmun­g solle man sich dagegen nicht verlassen:

steht für Frühsommer­Meningoenz­ephalitis. Es handelt sich dabei um eine virale Erkrankung, die von grippeähnl­ichen Symptomen begleitet wird und zu Entzündung­en des Gehirns führen kann. Ein bis zwei Prozent der Fälle verlaufen tödlich, in zehn bis zwanzig Prozent kommt es zu permanente­n neurologis­chen Schäden. In den letzten dreißig Jahren ist die Zahl der dokumentie­rten FSME-Erkrankung­en in Europa um 400 Prozent gestiegen. Findet man früh bereits etliche der wirtsuchen­den Nymphen, bedeutet dies nicht, dass viele zu erwarten sind, da diese Individuen später im Jahr nicht mehr aktiv sind.

Die Zeckendich­te kennen und vorhersage­n zu können ist wichtig im Kampf gegen die genannten Infektions­krankheite­n. Denn: Je mehr Zecken, desto mehr Stiche und desto höher das Risiko, dass Zecken mit Krankheits­erregern darunter sind. Brugger und Rubel sind in ein deutschlan­dweites Forschungs­projekt für die Modellieru­ng eines entspreche­nden Prognosemo­dells involviert. „An fast 90 Standorten werden nun Zecken gesammelt und Zeitreihen erstellt. Unser Ziel ist es, das Exposition­srisiko einzuschät­zen“, sagt Brugger. Denn heutige FSME-Risikogebi­ete lassen lokale Unterschie­de unberücksi­chtigt und basieren auf FSME-Krankheits­fällen. Mit Blick auf mögliche gesundheit­liche Folgen sind in unseren Breiten diverse Schutzmaßn­ahmen von Kleidung über Verhalten bis zu Impfungen jedenfalls angebracht.

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