Das törichte Wort
Die Kriterien für politische Korrektheit auf den alltäglichen oder den wissenschaftlichen Sprachgebrauch anzuwenden ist das eine. Das andere ist die heute häufige Anwendung dieser Kriterien auf sprachliche Kunstwerke. Ein Einwurf aus gegebenem Anlass.
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! Das arglose Wort ist töricht Bertolt Brecht, „An die Nachgeborenen“
Eins. Unter politischer Korrektheit sei die Gleichbehandlung von Menschen verstanden, die – etwa aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe oder einer mentalen oder physischen Beeinträchtigung – in besonderem Maß der Gefahr von Diskriminierung ausgeliefert sind. Politische Korrektheit in diesem Sinn setzt zumeist die als intersubjektiv verbindlich anerkannte Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz voraus.
Im Bereich sprachlicher Handlungen führt politische Korrektheit zu Formulierungen, die die Gefährdeten nicht beleidigen oder kränken sollen, zu Formulierungen allerdings, die häufig unökonomisch und pedantisch sind, ja sprachliche Verrenkungen, die kaum als stilistisch befriedigend zu akzeptieren sind. Wie in „An die Nachgeborenen“von Bertolt Brecht „der Zorn über das Unrecht die Stimme“derjenigen „heiser“macht, die das Unrecht äußern, kann offenbar der Zorn über die Ungleichbehandlung von Menschen die Sprache entstellen.
Die Kriterien für politische Korrektheit auf den alltäglichen oder den wissenschaftlichen Sprachgebrauch anzuwenden ist das eine. Das andere ist die heute häufige Anwendung dieser Kriterien auf sprachliche Kunstwerke. Gibt es aber im Bereich des Ästhetischen ein plausibles Analogon zu politischer Korrektheit? Wenn ja, dann lässt es sich vielleicht als die Behandlung von Kunstwerken gemäß ihrem ästhetischen Wert verstehen, als, sagen wir, ihre ästhetische Angemessenheit.
Eine für diese unerlässliche Voraussetzung wäre allerdings die intersubjektive Verbindlichkeit ästhetischer Werte. Dass heute gerade diese Voraussetzung – anders als diejenige des Wertes der Gleichbehandlung – als höchst zweifelhaft gilt, ist Hinweis auf einen, wie ich meine, tiefgreifenden Konflikt: Nach den Kriterien für ästhetische Angemessenheit sollen allfällige beeinträchtigende Bedingungen für das Entstehen eines Kunstwerks – etwa Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe – irrelevant sein. Wird jedoch ein Kunstwerk ohne Rücksicht auf solche Bedingungen ästhetisch negativ bewertet, dann kann eine solche Bewertung aus der Sicht politischer Korrektheit mit gewissem Recht als ein weiterer Fall von Diskriminierung gelten. Umgekehrt kann die positive Bewertung eines Kunstwerks auf- grund beeinträchtigender Bedingungen seines Entstehens als ästhetisch unangemessen und daher als eine Art Diskriminierung wenn nicht des Kunstwerks, so doch des ästhetischen Feldes erscheinen.
Zwei. Aus der Sicht politischer Korrektheit können nicht nur die Bedingungen des Entstehens eines Kunstwerks zu seiner Bewertung beitragen, sondern auch ob und inwieweit es unbedingte Gleichbehandlung affirmativ thematisiert. So wie in Brechts Gedicht „ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“, könnte dann beispielsweise James Joyce’ Roman „Ulysses“, etwa aufgrund der inneren Monologe seines Protagonisten Leopold Bloom über so Alltägliches und Privates wie seinen Stuhlgang oder seiner Vorliebe für den Uringeschmack der von ihm zubereiteten Nieren, als beinahe verbrecherisch gelten. Nach den Kriterien für ästhetische Angemessenheit wäre jedoch womöglich gerade die rückhaltlose Darstellung von ansonsten als nebensächlich Geltendem ein Grund für seine positive Bewertung.
Für einen weiteren Grund, ein Werk aufgrund seiner angeblichen oder tatsächlichen politischen Inkorrektheit negativ zu dicht Eugen Gomringers von der Hausfassade einer Berliner Fachhochschule entfernt: „avenidas / avenidas y flores / flores / flores y mujeres / avenidas / avenidas y mujeres / avenidas y flores y mujeres y / un admirador.“Eine Übersetzung ins Deutsche: „Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer.“
Nicht, dass Gleichbehandlung nicht affirmativ thematisiert wird, ist hier aus der Sicht politischer Korrektheit Stein des Anstoßes, sondern dass das Gedicht sexistische Klischees bedient und damit zwischen den Zeilen Frauen diskriminiert. Auch ein anscheinend argloses Gedicht über Frauen, die wie Blumen sind, kann also fast als ein Verbrechen gelten. Und wie, wenn ein Gedicht so lauten würde? „Alleen / Alleen und starke Bäume / Starke Bäume / Starke Bäume und Frauen / Alleen / Alleen und starke Frauen / Alleen und starke Bäume und Frauen und / so wenige, die sie bewundern.“
Auch wenn der Wert dieses Gedichts (wie ich annehme) ästhetisch nicht höher ist als der des Gedichts von Gomringer, verlangte wohl niemand seine Entfernung, und mindestens von den Studierenden jener Hochschule würde ihm wohl allein aufgrund seiner vorgeblichen oder tatsächlichen politischen Korrektheit ein höherer Wert zugeschrieben als dem Gedicht Gomringers. Aus der Sicht ästhetischer Angemessenheit allerdings könnte die Bevorzugung dieses Gedichts gegenüber dem Gomringers geradezu als Verstoß gegen ästhetische Gerechtigkeit verstanden werden. Und gemessen an dem, was Gedichte ästhetisch sein können und sollen, wäre das Gedicht deshalb zwar töricht, jedoch keineswegs arglos.
Drei. „Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / Konnten selber nicht freundlich sein“: Dass auf Kunstwerke angewendete politische Korrektheit oft zu deren unfreundlicher Behandlung, nämlich zu ästhetischer Unangemessenheit führt, ist vielleicht in dem Maß unvermeidlich, in dem die Gleichbehandlung von Menschen und daher Gerechtigkeit noch nicht hergestellt sind und also soziale Diskriminierung stattfindet. Brechts Gedicht aber enthält eine Bitte an die Nachgeborenen: Diese mögen, „wenn es so weit sein wird / Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“, all jener mit Nachsicht gedenken, deren Stimmen heiser wurden, weil sie den Boden für Freundlichkeit bereiten wollten.
Weil doch auch sie den Boden für Freundlichkeit bereiten wollen, will ich diese Nachsicht gegenüber denjenigen üben, die sich – sei es der Sprache im Allgemeinen, sei es sprachlichen Kunstwerken gegenüber – unfreundlich verhalten. Doch will ich solche Nachsicht auch deshalb üben, weil ich ihrer selbst bedarf. Denn die Unterscheidung der Bereiche des politisch Korrekten und des ästhetisch Angemessenen kann nicht nur Kunstwerke als menschenunfreundlich erscheinen lassen – der Zorn über jene, die die Sprache und insbesondere sprachliche Kunstwerke unfreundlich