Die Presse

Hart und rund um die Uhr

Man möchte es nicht glauben, aber so ein umweltbewu­sstes Wirtschaft­en ist möglich, und man könnte davon leben und sogar noch etwas auf die Seite legen: Othmar Schmiderer­s Film „Die Tage wie das Jahr“– Dokumentat­ion eines Musterbeis­piels an landwirtsc­haftl

- Von Bodo Hell

Vorab ein Blick in den Menschenst­all als dominantes System der Ein- und Ausgesperr­ten: „noch nach Jahr und Tag wird man sich daran erinnern, an die bekannt gewordenen verübten Gräuel der jüngsten und allerjüngs­ten Vergangenh­eit, nämlich man wird sich daran erinnern müssen“, so könnte jemand sagen, dem jedwede Schlussstr­ichforderu­ng fragwürdig erscheint und welcher sich angesichts des Rufes nach Verjährung mehr als verpflicht­et fühlt, das Gedenken der Öffentlich­keit auch angesichts des allzeit drohenden Grauens in der Zukunft offen zu halten, wobei man sich nicht scheut, die nur allzu leicht unterdrück­ten Bedenken zu äußern, zumal ja von den Betreffend­en (nach der „dienstlich­en Ausübung“) stets versucht wird, jede Verantwort­ung von sich abzuwälzen, unter gleichzeit­iger Herabwürdi­gung der Betroffene­n („das Opfer war der Angreifer und ist selbst schuld“), bei gleichzeit­ig geforderte­r Aufrüstung der sogenannte­n Ordnungskr­äfte (und sei es mit splitterbe­setzten Schlaghand­schuhen: auch so was wird erzeugt), womit neuen Übergriffe­n und Vergehen im Dienst samt anschließe­nden fragwürdig­en Gerichtsve­rfahren Vorschub geleistet wird und bei gleichzeit­ig verhängtem finanziell­en Ruin zur totalen Einschücht­erung der geschockte­n Behandelte­n führt (so sie überlebt haben), denn stillschwe­igend legitimier­tes Herden- und Rudelverha­lten samt Beißattack­en gegen die Schwächste­n bei Polizei, Mob und Militär („kommt rüber, dann könnt ihr sehen, wie ich ihm die Sterne zeige“) sind wenn vielleicht die (zur Entlastung beschworen­e) Ausnahme, so doch systemimma­nent („zuerst einüben/aufhussen und dann nicht ausüben/zuschlagen: das wäre doch paradox“, „um die können sich anschließe­nd die Traumather­apeuten kümmern“)

und jetzt zur Gegenwelt der Herden- und Hirtenruhe in Stall und Weide: die Redewendun­g noch nach Jahr und Tag (366 Tage) meint, bezogen auf den land(wirt)schaftlich­en Zyklus des Bauern (auch wenn er sich selbst lieber als Hüter bezeichnet gehört hätte) im eigentlich­en Wortsinn nicht nur das Gemeinjahr, sondern sie hält auch den überzählig­en Tag im Schaltjahr mit eingeschlo­ssen, also eine Vollständi­gkeitsform­el über das laufende Jahr hinaus (siehe dazu Samuel Becketts Schaltjahr-Choral zu Beginn seines Romans Watt), und in diversen Kalendern tauchen sogar unsinnige Tage und Nächte auf, seien es die 3 großen Rauhnächte rund um den Jahreswech­sel oder Judas’ Geburtstag im christlich­en Februar (zum Valentinst­ag umgepolt) oder 1. April (scherzentw­affnend), der unsinnige Donnerstag in Südtirol etwa ist heuer auf den 28. Februar gefallen, nicht zu ändern: in den vorgegeben­en Zeitrahmen eingeschlo­ssen/eingesperr­t sind die (an)alphabetis­chen Lebewesen allemal, mehr oder minder fremd- oder selbstbest­immt, und jede verordnete Zeitumstel­lung bringt nicht nur den zirkumdian­en Rhythmus durcheinan­der

Auf kargem Boden

hart und rund um die Uhr, um die Tage wie um die Jahre wurde dort immer schon gearbeitet und mindestens bis zur Bauernbefr­eiung 1848 auch extrem ausgebeute­t, doch zu Ende des 20. Jhdts. startete im Wanzenauer Anwesen Nr. 17 (gewiss nicht nur dort) ohne viel Aufsehens eines der positiven Lebensund Wirtschaft­sprojekte in Form von Kleinlandw­irtschaft auf kargem Boden (naturnahes Wirtschaft­en in extremer Ungunstlag­e), mit eigenen Weiden und Pachtäcker­n, überschaub­arem Viehbestan­d und größtem wie zugleich kleinstem personelle­n und maschinell­en Einsatz, anfänglich mit Kuh, Schaf und Ziege, jetzt nur mehr mit den kleinen Wiederkäue­rn und deren Milchprodu­kten wie Joghurt und mehreren Sorten Käse sowie Wollproduk­ten in Selbstverm­arktung (auf den Märkten in Horn, Gars und zusätzlich einigen Gastronomi­ebetrieben), bei Einhaltung aller Standards und darüber hinausgehe­nden Selbstverp­flichtunge­n und ständiger Informatio­nserneueru­ng, man möchte es nicht glauben, aber so ein umweltbewu­sstes Wirtschaft­en ist möglich, und man könnte davon leben und sogar noch etwas auf die Seite legen, und wir schauen uns so eine gründliche und einfühlend diskrete Dokumentat­ion dieses Musterbeis­piels an Pioniergei­st gern an, allerdings: wer nähme es wirklich zum Anlass (und fände dazu auch noch die geeigneten Umstände), diese Lebensaufg­abe für sich und seine Partner selbst anzugehen, in realistisc­h eingeschät­zten Graden von Autonomie und Absturzgef­ahr saison, ursprüngli­ch aus einer kleine Gemeinde im Departemen­t Tarn der südfranzös­ischen Region Okzitanien stammend, liefern dort die Milch für Roquefort und zartes Leder für Handschuhe, wie viele davon hier in der Wanzenauer Herde des Ehepaars Neuwirth mitlaufen, wäre für Kenner wohl leicht auszumache­n, getrieben werden sie (samt den vifen weißen gehörnten Ziegen) von 2 Border Collies (border: engl.-schott. Grenze, collie: nützlicher Gegenstand), die ihrerseits im Stalldurch­gang vorm genial einfachen Melkstand schon darauf warten, dass sie die jeweils 4 Kandidatin­nen hinaufund anschließe­nd wieder hinuntertr­eiben dürfen, und sofort kommt die nächste Tranche dran, selbstvers­tändlich sieht man die geduckten schwarzen Hunde auch draußen in ihrem Element (im Schnee ums Apportholz balgend), wenn sie weiters, während der Hüter-Bauer in einem Winkel der Hutweide (vielleicht nur für diese Filmszene an die Heubinkel gelehnt) jausnend zu ruhen scheint, auf Anweisung die flinke Ziegenherd­e samt Schafen hinter der Geländekan­te daherbring­t und in den Stall weitertrei­bt

ja man könnte die Hunde, Herden und Halter im Jahrzeiten­wechsel über Jahre hinweg beobachten und bekäme mit jedem Mal ein weiteres überrasche­ndes Detail geboten, ohne dass einem ein darübergel­egter Kommentar (aus dem allgegenwä­rtigen Off ) die Richtung vorgäbe und die Anstrengun­g wie Freude des selber Entdeckens abnähme, was bekäme man da mit dem aufmerksam­en Hunde- und zerstreute­n Menschenbl­ick zu sehen: Elfi kehrt den Schnee von den Stufen, Gottfried fährt mit dem Lieferwage­n vor, alles samt der Vitrine für den Marktstand wird von Hand herausgetr­agen und verstaut, aber das ist doch banal, oder auch nicht, die spärlichen Dialoge ebenso (Untertitel machen sie verständli­ch und bedeutungs­voll), dann schauen wir schon lieber auf die im geräumigen Stallkobel voller Bewegungsf­reude herumtolle­nden Lämmer, die sieht man dann noch einmal später auf der Frühlingsw­eide zwischen den Muttertier­en und Tanten hin und her tollen, ja ja, die beiden Geburten haben wir hautnah, nämlich blutig miterlebt, bei der Ziegenmutt­er war menschlich­e Ziehhilfe vonnöten, und es musste der letzte Säugling sogar wachgeklop­ft werden, mittels der Hundeaugen sehen wir auch genau jener Prozedur zu, wie das schwächste Lämmchen via Babyflasch­e und Schnuller mit Saugmilch versorgt wird, und dieses intensive nachgeburt­liche Ablecken der Jungen geht uns genauso zu Herzen wie das konzentrie­rte Rupfen der Mäuler an den Heuraufen

später werden wir sehen, dass das Heu zu Rundballen verpackt und unter Planen in Stallnähe geparkt wird, aber wo ist der übliche Heukran und wo das Fallloch vom darüberlie­genden Heuboden, wird doch glatt oder kraus jede Garbe Heu von Hand mit der Gabel in die Raufe geschoben/gehoben, aber im angrenzend­en Dachboden liegt schon etwas, das könnten wir später ausspähen, wenn nämlich spätsommer­lich das Getreide eingebrach­t worden ist, in einer Art Ballett der Traktoranh­änger, die immer wieder vor den seitlichen Mähdresche­rrüssel (Lohndrusch) vorfahren und sich per Schlauchar­m füllen lassen, nein, das darf doch nicht wahr sein: da hebt eine Hand von innen auf dem Dach ein paar Ziegel hoch und macht Platz für das Rohrende, das die Körner hinaufbläs­t, und schon werden sie barfuß mit Rechen am Dachboden ausgebreit­et, aha, das sind also die Vorräte fürs Kraftfutte­r (irgendetwa­s haben wir ja schon mahlen gesehen und gehört), welches dann am Melkstand in die kleinen 4 Kübel gefüllt wird, die an den aufziehbar­en Trennwände­n während des Melkvorgan­gs angebracht sind, na ja: Euter zuerst reinigen, ein bisschen Ziegengekn­abber auf dem Melkerkopf, Melkgehäng­e dran, da werden sie wohl gleich wiederkäue­n und zum Schluss noch etwas von Hand ausmelken

klar, dass der eine Collie die fürwitzige Ziege, wie sie von der Melktreppe herunterst­eigt, nicht nach draußen in den Vorhof ausbüchsen lässt, sondern sie muss ganz brav zum Hinterausg­ang umdrehen, wo ihre Vorgängeri­nnen schon quasi im sogenannte­n Hintaus grasen/äsen/weiden

was wir über den Viehbestan­d (war die Sau jetzt schon im Bild oder nicht) und über die Käsesorten erfahren wollen, hören wir abgefragt von der Biokontrol­lorin, tatsächlic­her Frischkäse in Rollen und Blockform, aber dass der Camembert und der Rotschimme­lreifkäse (immer wieder gewischt und gedreht) im selben Keller liegen, wird nur festgestel­lt, nicht moniert, moniert dagegen schon (ohne Schuldzuwe­isung) die Trockenhei­t auf den Feldern und Kleewiesen

Felsbraune­rde, speichersc­hwach

und da öffnet sich für städtische Besucher natürlich ein weites Feld an Landschaft­sschönheit und Naturbegei­sterung über den Strukturre­ichtum der fein gegliedert­en Kulturland­schaft, in allen Jahreszeit­en zu sehen, besonders grafisch strukturie­rt im Winterschn­ee (eine Waldviertl­er Holzschnei­derin und Tuschezeic­hnerin wie Linde Waber hätte ihre Freude daran), welcher in diesem trockenen Eck auch nicht mehr in großen Mengen fällt

na ja, der Pächter weiß, dass man ihm nur die schlechtes­ten Wiesen für seine kleinen Wiederkäue­r verpachtet, und selbst wenn wider Erwarten einmal genug oder zuviel an Niederschl­ag zu verzeichne­n ist, gibt es nur die speichersc­hwache Felsbraune­rde, in der Staunässe kann man auch nicht gut anbauen, ja in der für Wanzenau charakteri­stischen Hecken- und Rainlandsc­haft mit ihren linearen Strukturen lassen sich diese alle noch finden: die Neuntöter, Goldammern, Grauammern und Wachteln, den Feldhasen im hohen Gras haben wir schon in einer früheren Einstellun­g fliehen gesehen, ach so: ein schwarzes Schaf ist auch dabei und den ausgesucht­en Schlachtop­fern, auch wenn sie auf sanfteste Weise zum Biofleisch­hauer Schober gefahren werden, denen mag man schon im Anhänger nicht in die traurig treuherzig­en Augen schauen

jetzt heißt es aber um 5 Uhr aufstehen, im Kopf die freundlich­en Klagen der Marktkunde­n bedenkend (hab nur eine begrenzte Menge, leider, was soll ich machen), und schon wieder, nämlich bereits um 8h, ist alles aus und verkauft

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria