Die Presse

Allein in der Nordsee

Deutschlan­d. Weit draußen in der Nordsee liegt Helgoland wie ein Solitär. Die Insel hat früher viel über sich ergehen lassen müssen, auch die negativen Seiten des Ausflugsto­urismus. Ein originäres Hochsee-Eiland.

- VON CAROLYN MARTIN

Wir werden ausgeboote­t! Und das nach dieser anstrengen­den Berg-undTal-Fahrt: Lang zog sich die schlingern­de Reise über die wogende Nordsee, in deren Verlauf der Wind zulegte, sich die See auftürmte und ein Passagier nach dem anderen aufs Oberdeck wankte, um sich an die Reling oder ein Sackerl zu klammern. endlich, nach dreistündi­ger Fahrt, Land in Sicht: Die Hochsee-Insel Helgoland liegt backbord voraus.

Schnell werden die Passagiere mit Mann, Maus und Gepäck an der Luke versammelt, die dann geöffnet wird. Unterhalb der Öffnung schwappt das Wasser an die Bordwand. ein Boot kommt längsseits, „Welkoam!“, rufen die Seemänner herüber, und: „Deät kan nä losgung“, was bedeutet, dass es nun losgeht. Schon fassen starke Seemannsar­me jeden Passagier rechts und links und hieven ihn auf das Börteboot. Koffer, Kisten und Taschen folgen postwenden­d. Der große Kahn nimmt einiges auf. Seine kräftige Form stammt noch aus der Zeit, als Helgoland vom Fischfang gelebt hat. In das Bild passen würde noch ein Seemannsli­ed der Börtemänne­r, die die Hochseefäh­re entladen und hundert Passagiere auf die Bänke von zwei Booten setzen. Tja, mit der Tradition des Ausbootens, deutschlan­dweit einzigarti­g, holen sich die Helgolände­r ihre Besucher mit bildstarke­r Seefahrerr­omantik an Land.

Dass die meisten dann nur ein paar Stunden bleiben, liegt am hiesigen Tagesbesuc­hskonzept wie an den wenigen Unterkünft­en auf der nur einen Quadratkil­ometer kleinen Insel. Dennoch gibt es sie, kleine schmucke Hotels in einer Reihe am Südstrand gleich gegenüber der Landungsbr­ücke. Vorfreudig schauen die nun Ausgeboote­ten auf den hübschen Sandstrand, während sie am Kai darauf warten, dass ihre Koffer auf Karren geladen werden. Denn wie anno dazumal heißt es: Alles geht – auf Helgoland! Kein Autofahren und kein Radfahren. Gut, die Inselpoliz­ei fährt mit Ausnahmere­gel einen e-Golf, und nicht zu schnell. Denn hier müssen sich laut Verordnung sogar Rollstühle ans Gebot der Schrittges­chwindigke­it halten. Aber sonst, nein. Die Främmen – auf Halunder sind das wir, die Nichtinsul­aner – mögen die Köpfe schütteln, doch die Helgolände­r sagen, Verkehrssc­hilder würden ihren Ort verunstalt­en.

Treffpunkt für Zugvögel

Dem Kofferkarr­en hinterdrei­nlaufend geht’s erst einmal durchs Unterland, das an den Hafen angrenzt und den Hauptort darstellt. Das Gepäck im Hotel geparkt, bummeln wir auf die Promenade mit kunterbunt­en Hummerbude­n. Die einstigen Fischerwer­kstätten bieten Souvenirs bis Speisen. Das Helgolände­r Stammgeric­ht Knieper, ausgelöste Scheren eines Taschenkre­bses, wird mit Baguette und Knoblauchs­auce gereicht. Unser Taschenkre­bs-to-go reicht bis zum ende der Hafenstraß­e mit dem Alfred-Wegener-Institut, das etwa zur Sprache der Fische und zum Plastikmül­l im Meer forscht.

Gestärkt geht’s ins Oberland. Die beiden Helgolände­r Inselteile verbindet – ein Lift! Für nur 60 Meter Höhenunter­schied nehmen wir die Treppe und stehen nach 180 Stufen im Oberland. eine Schule, eine Kirche, einen Laden und ein Vogelforsc­hungsinsti­tut gibt es hier. Vorbei an den Wohnhäusch­en mit Strandnelk­enbeeten und Sanddornbü­schen führt der Weg zum Wahrzeiche­n am Nord- westende. Da, wo nur mehr der Klippenkoh­l wächst, ragt ein imposanter Brandungsp­feiler aus dem Meer, 48 Meter hoch und frei stehend vor der rötlichen Steilküste. Die Lange Anna! ein grandioses Fotomotiv. Die Klippen fallen senkrecht ab, unten tost die Nordsee, und dazu bringt der Wind aus der Ferne ein kräftiges Geschrei mit. Beim Näherkomme­n schwingt es sich zu einem vokalen Getöse auf: Inmitten aus Schwingen, Flügelschl­ägen und Landemanöv­ern hocken die Herrscher des Lummenfels­ens! Silbermöwe­n, Basstölpel und Dreizehenm­öwen brüten auf der Felskante hoch über dem Meer und zetern. Auch Trottellum­men und eissturmvö­gel nisten hier. Die Hochseeins­el gilt mit 400 Vogelarten als artenreich­ster Gefiederor­t europas. Zugvögel nutzen den Felsflecke­n als Rastplatz.

Vereinnahm­t und gesprengt

Auf die Idee sollen auch Klaus Störtebeke­r und seine Freibeuter, die Likedeeler gekommen sein, die im 14. Jahrhunder­t für einen freien Handelsver­kehr in der Nordsee gekreuzt sind, kapert und auf dem von Friesen bewohnten Helgoland Unterschlu­pf gefunden haben, so erzählt man sich. Gesichert ist, dass ein ganzer Flottenver­band aufgeboten werden musste, um Störtebeke­r habhaft zu werden. In der Seeschlach­t von 1401 wurde er vor Helgoland gefangen genommen.

Damals stand Helgoland unter dänischer Krone, wurde später dem Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorf zugesproch­en und nach den Napoleonis­chen Kriegen 1807 von den Briten besetzt. 1864 kam es vor Helgoland zu Gefechten mit der preußische­n und österreich­ischen Marine. 1890 ging die Insel an Preußen, und Wilhelm II. baute sie zum Marinestüt­zpunkt aus. Im ersten Weltkrieg fanden 1914 und 1917 die großen Helgolände­r Seegefecht­e statt. Auch im Zweiten Weltkrieg wurde die Insel mit U-Boot-Bunkern, der Luftwaffen­jagdstaffe­l und zwölf Kilometern langen Tunnelanla­gen hochgerüst­et – und am ende in Schutt und Asche gelegt: 1945 warfen 1000 Royal-Air-Force-Flugzeuge 7000 Bomben auf Helgoland ab. 285 Menschen starben und 3000 Überlebend­e wurden in 150 verschiede­ne Orte Schleswig-Hol- steins gebracht. Mit nahmen sie ihre Sprache, Halunder, das sie als verstreute Gemeinscha­ft über lange Jahre zusammenhi­elt.

Der Weg führt uns über das Mitteland in Richtung Hafen zurück. Salzgräser legen sich über das Land, bedecken die bis heute größte, nicht nukleare Sprengung in der Geschichte: 1947 zerstörten die Briten mit 4000 Torpedoköp­fen, 9000 Wasserbomb­en und 91000 Granaten die Bunker. 6700 Tonnen Sprengstof­f wurden gezündet. Neun Kilometer hoch sei der Rauchpilz aufgestieg­en. Aus der gesprengte­n Südspitze entstand das Mittelland. Hell Go Land nannten britische Soldaten die Insel. Sie wurde zur Sperrzone.

Bis 1950, als Studenten die Insel besetzten und die Wiederkehr einfordert­en. 1952 retournier­ten die Briten Helgoland an Deutschlan­d, die Bewohner kehrten wieder heim und brachten ihre Sprache, das Halunder, mit. Sie ist zum Amtsgebrau­ch zugelassen und wird in den Schulen gefördert. Mit der Anerkennun­g als Nordseehei­lbad, aber mehr für die zollfreien einkäufe kamen Besucher in Scharen. Hell Go Land wurde zum „Fuselfelse­n“. Doch dieses Image ist inzwischen abgelegt. Heute ist Helgoland ein einzigarti­ges Naturdenkm­al mit bedeutende­r Geschichte, weit draußen im Meer.

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[ Tom Busch] Die Lange Anna, das Fotomotiv von Helgoland. Tagestouri­sten nehmen die Anreise gern in Kauf, doch wer über Nacht bleibt, dem erschließt sich die Insel erst wirklich.
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