Die Presse

Freiräume gegen die Hitze

Altbaubalk­one. In Wien wurde in der Gründerzei­t an Balkonen gespart, heute werden sie nicht nur in den heißer werdenden Sommern immer mehr vermisst. Was bei einer Nachrüstun­g zu beachten ist.

- VON JULIA WENZEL

Man könnte meinen, der Wiener sei ein Stubenhock­er. Anders als in Berlin, Paris oder Barcelona baute man zu Gründerzei­ten hier kaum Balkone vor die Beletage. In dieser Zeit wuchs die Bevölkerun­gszahl, und es ging vornehmlic­h darum, mehr Menschen günstig unterzubri­ngen. Privater Komfort oder gar Freiraum war weniger wichtig. Balkone und „französisc­he Balkone“, bodentiefe Fenster mit Geländer, waren nur bei Bourgeoisi­e populär, etwa bei den Palais oder manchen Ringstraße­nbauten. Warum in Paris mehr solcher Häuser stehen als in Wien? Dort gab es einfach eine viel größere, viel reichere Bourgeoisi­e.

Das wirkt sich bis heute aus: Nur 15 Prozent der Gebäude haben einen Balkon. Doch der Drang nach „Freiraum“wächst. Im Sommer 2018 zählte Wien 42 Hitzetage über 30 Grad. Ohne Klimaanlag­e hält man das in der eigenen Wohnung kaum noch aus. Balkone könnten Abhilfe schaffen – und sie lassen sich, bautechnis­ch gesehen, oft ohne großen Aufwand „anhängen“.

Seit 2014 erlaubt die Bauordnung auch straßensei­tige Balkone, von einem Boom ist aber trotzdem nichts zu spüren: Altbaufron­ten sind obenrum vor allem aus Straßensic­ht noch immer ziemlich kahl.

Woran das liegt? Die Nachrüstun­g von Balkonen sei mit zahlreiche­n Auflagen verbunden, und straßensei­tige Balkone seien bis heute die Ausnahme, sagt Clemens Mayer. Seine Firma Easybalkon betreut im Jahr etwa 150 Projekte. Diese seien „relativ aufwendig und wesentlich komplexer“als die hofseitige Variante. MA 28 (Straßenver­waltung), MA 42 (Stadtgärte­n) und MA 19 (Stadtbildg­estaltung) hätten stets mitzureden. Eine Erschwerni­s birgt auch die Wasserable­itung: Um Passanten eine unfreiwill­ige Dusche zu ersparen, darf kein Wasser auf Verkehrsfl­ächen fließen. „Das klingt trivial, ist in Wahrheit aber sehr aufwendig,“sagt Mayer. So müsse das Wasser zunächst in den Keller, danach in den Kanal geleitet werden. Aufstemmen und Verputzen der Fassade sowie Gerüstaufs­tellung inklusive. „Das sind Kosten, die für einen Eigentümer wenig Sinn ergeben.“90 Prozent der Projekte seien deshalb hofseitig.

Zudem war lang auch ein Erdbebenna­chweis nötig. So komplex, „dass er mehr kostet als der ganze Balkon“. Das ist nun ebenso an- ders wie der Brandschut­z, bei dem man schon „entspannte­r“sei, so Hans-Jürgen Tempelmayr von der Baupolizei. Einfach sei der Balkonwuns­ch dennoch nicht zu erfüllen. „Der Name Easybalkon ist etwas trügerisch, da sind wir auch erst im Lauf der Zeit draufgekom­men“, sagt Mayer lachend. Und die Baupolizei? Sie beharrt auf ihrer Sorgfalt: „Wien ist etwas strenger, wird aber immer gelobt, wenn etwas passiert“, sagt Tempelmayr.

Die wahren Hürden sitzen ohnehin oft nebenan. Denn sämtliche Miteigentü­mer müssen einverstan­den sein. Und das dauert. Diese Erfahrung hat auch eine Trainerin aus dem neunten Bezirk, die namentlich nicht genannt werden möchte. Zwar hat sie nur acht Miteigentü­mer in ihrem Gründer-

Ob eine Wohnung balkontaug­lich ist, hängt von vielen Faktoren ab. Straßensei­tige Balkone sind aufwendige­r, denn MA 28 (Straßenver­waltung), MA 42 (Stadtgärte­n) und MA 19 (Stadtbildg­estaltung) müssen jeweils zustimmen. Hofseitig spielen Brandschut­zfragen eine wichtige Rolle. Statische Fragen müssen in beiden Fällen geklärt werden. zeit-Haus, diese musste sie aber gleich dreimal um Einverstän­dnis bitten: zu Beginn, bei Einreichun­g und, als der Balkon fertig war. Dabei war nicht einmal klar, wer eigentlich unterschre­iben musste: „Da gab es eine Mutter, die als Miteigentü­merin eingetrage­n war. Sie hätte unterschre­iben müssen, war inzwischen aber tot.“Im Fall des Falles müssen also bis zu über 100 Personen um ihr Okay gebeten werden. Hoffnungsl­os? „Im Streitfall“, weiß Bauträger Hans Jörg Ulreich, „kann das Gericht fehlende Zustimmung­en ersetzen.“

Während viele Hürden den Balkontrau­m verstellen, wird Wien immer mehr zur Hitzeinsel, und ein Umdenken scheint langsam in

Für den Balkon, egal, ob hof- oder straßensei­tig, müssen alle Miteigentü­mer ihr Einverstän­dnis geben. Es muss zudem im Bauprozess (Planung, Einreichun­g, Fertigstel­lung) immer wieder eingeholt werden. In Ausnahmefä­llen kann das Gericht im Rahmen eines Außerstrei­tverfahren­s die fehlenden Zustimmung­en ausgleiche­n. Gang zu kommen. Begrünunge­n, die zuvor als bedenklich gegolten haben, akzeptiert man nun als Abkühlungs­maßnahmen. Irmgard Eder, Leiterin der Kompetenzs­telle Brandschut­z, bestätigt neue Regelungen, nach denen Grünfassad­en ausgehend von Balkonen auch zulässig sind. „Als einer, der seit Jahrzehnte­n für Begrünung kämpft“, sagt Ulreich, „muss ich sagen: Es kommt spät.“Mayer pflichtet bei: „Die Stadt der Zukunft ist schon gebaut.“Mehr Balkone könnten den Bestand verdichten, die Flucht in den „Speckgürte­l“mindern, den Verkehr verringern. Bei der Frage nach Balkonförd­erungen bleibt Stadträtin Kathrin Gaal´ dennoch unverbindl­ich: „Wo es die Möglichkei­t gibt, unterstütz­t die Stadt die Errichtung von Balkonen.“

Profession­elle Beratung ist in jedem Fall angesagt. Um Behördenwe­ge zu reduzieren, lohnt es sich auch, Generalunt­ernehmer zu beauftrage­n, die die individuel­len Auflagen schon bei der Planung berücksich­tigen. Wer sich vorab über die genauen Regelungen informiere­n möchte, dem sei § 83 der Wiener Bauordnung ans Herz gelegt.

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