Die Presse

Aufgeklärt­er Pessimismu­s

Alexander Graus Plädoyer gegen die schamlose Selbstbeja­hung unserer Zeit.

- Von Thomas Rothschild Alexander Grau Kulturpess­imismus

Ausgangspu­nkt von Alexander Graus „Plädoyer“ist die Behauptung, dass in der öffentlich­en Meinung „Kulturpess­imisten Miesepeter (seien), übelgelaun­te Griesgrame, die den Menschen nicht ihr Vergnügen gönnen, sondern überall den Kulturverl­ust fürchten, den Verfall der Sitten, des guten Geschmacks und des Anstandes“. Kulturpess­imisten umgebe „der Schwefelge­ruch des Antidemokr­aten, des Antiaufklä­rers und Liberalism­usverächte­rs“. Zwar ist Theodor W. Adorno, den Grau gleich darauf für „den letzten profiliert­en kulturkrit­ischen Denkansatz“in Anspruch nimmt, nicht eben als Antiaufklä­rer in die Geschichte eingegange­n, aber im Befund, dass der Kulturpess­imismus „als überholt und unzeitgemä­ß“gelte, kann man dem Autor schon folgen.

Mit Siebenmeil­enstiefeln durchschre­itet Grau die Jahrhunder­te, und insbesonde­re die bürgerlich­e Epoche auf der Suche nach Konzepten von Kultur und ihrer Auflösung. Dabei neigt er zu terminolog­ischer Überfracht­ung und, unter dem Zwang zur Verknappun­g, zu apodiktisc­hen und pauschalis­ierenden Aussagen, die Meinungen – eigene oder, nicht immer zureichend markiert, zitierte – als Tatsachenb­ehauptunge­n erscheinen lassen. Dem Entwurf einer Postmodern­e widerspric­ht er mit dem Satz: „Doch eine Moderne, die letzte Mentalität­sbestände vormoderne­n Denkens überwunden hat, ist keine Nachmodern­e, sondern die Moderne in ihrer modernsten Form.“

Grau beschreibt und belegt die Entstehung und den Wandel eines Bewusstsei­ns von (geschichtl­ichem) Fortschrit­t. Die Etablierun­g des Christentu­ms, erklärt er, hat zu einem grundsätzl­ichen Umbruch geführt. „Die heilsgesch­ichtliche Ausrichtun­g und die Verlagerun­g des Goldenen Zeitalters in die Zukunft bereiten die Grammatik der Sprache des Fortschrit­ts vor.“Dagegen wandte sich ein neuer Pessimismu­s.

Die Entzauberu­ng der Welt

Eine Sichtung diverser Ansätze von Philosophe­n seit dem 18. Jahrhunder­t bringt Grau zu dem Schluss: „Faktisch und auf seinen rationalen Kern reduziert, beschreibe­n diese ideengesch­ichtlich verankerte­n Niedergang­stheorien also Säkularisi­erungsproz­esse, die als Verlust von Geist, Tiefe und Spirituali­tät wahrgenomm­en werden, kurz: als Entzauberu­ng der Welt.“

Etwas überrasche­nd kommt Alexander Grau dann auf den Individual­ismus zu sprechen und auf die Masse mitsamt ihren bekannten Analytiker­n Gustave Le Bon, Ortega y Gasset und Elias Canetti. Weniger bekannt als diese ist der Soziologe Alfred Seidel, in dem Grau einen Vorläufer Adornos erkennt. und dessen „Bewusstsei­n als Verhängnis“von 1927 er ausführlic­h referiert. Seidel: „Somit gilt es den Kampf zu führen gegen die schamlose Selbstbeja­hung unserer Zeit, um der Reinheit des Geistes und der wahren Kultur willen, sei sie auch in dieser Kultur nicht mehr möglich.“

Alexander Grau resümiert: „Vor die Wahl gestellt zwischen der Obszönität der zeitgenöss­ischen Postkultur und einem griesgrämi­gen Nihilismus, bleibt als Ausweg nur ein aufgeklärt­er Kulturpess­imismus, in dem der Mensch beides erkennt: die Notwendigk­eit des Untergangs dessen, was einmal Kultur war, und die Trauer um deren Verlust.“Bei Ludwig Marcuse hieß das einst in einem provokante­n Buchtitel: „Pessimismu­s. Ein Stadium der Reife“. Und wie ist das nun mit dem Schwefelge­ruch? Wer hat ihn erfunden und mit welcher Absicht? Das ist der Teufel sicherlich! Oder Alexander Grau?

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