Aufgeklärter Pessimismus
Alexander Graus Plädoyer gegen die schamlose Selbstbejahung unserer Zeit.
Ausgangspunkt von Alexander Graus „Plädoyer“ist die Behauptung, dass in der öffentlichen Meinung „Kulturpessimisten Miesepeter (seien), übelgelaunte Griesgrame, die den Menschen nicht ihr Vergnügen gönnen, sondern überall den Kulturverlust fürchten, den Verfall der Sitten, des guten Geschmacks und des Anstandes“. Kulturpessimisten umgebe „der Schwefelgeruch des Antidemokraten, des Antiaufklärers und Liberalismusverächters“. Zwar ist Theodor W. Adorno, den Grau gleich darauf für „den letzten profilierten kulturkritischen Denkansatz“in Anspruch nimmt, nicht eben als Antiaufklärer in die Geschichte eingegangen, aber im Befund, dass der Kulturpessimismus „als überholt und unzeitgemäß“gelte, kann man dem Autor schon folgen.
Mit Siebenmeilenstiefeln durchschreitet Grau die Jahrhunderte, und insbesondere die bürgerliche Epoche auf der Suche nach Konzepten von Kultur und ihrer Auflösung. Dabei neigt er zu terminologischer Überfrachtung und, unter dem Zwang zur Verknappung, zu apodiktischen und pauschalisierenden Aussagen, die Meinungen – eigene oder, nicht immer zureichend markiert, zitierte – als Tatsachenbehauptungen erscheinen lassen. Dem Entwurf einer Postmoderne widerspricht er mit dem Satz: „Doch eine Moderne, die letzte Mentalitätsbestände vormodernen Denkens überwunden hat, ist keine Nachmoderne, sondern die Moderne in ihrer modernsten Form.“
Grau beschreibt und belegt die Entstehung und den Wandel eines Bewusstseins von (geschichtlichem) Fortschritt. Die Etablierung des Christentums, erklärt er, hat zu einem grundsätzlichen Umbruch geführt. „Die heilsgeschichtliche Ausrichtung und die Verlagerung des Goldenen Zeitalters in die Zukunft bereiten die Grammatik der Sprache des Fortschritts vor.“Dagegen wandte sich ein neuer Pessimismus.
Die Entzauberung der Welt
Eine Sichtung diverser Ansätze von Philosophen seit dem 18. Jahrhundert bringt Grau zu dem Schluss: „Faktisch und auf seinen rationalen Kern reduziert, beschreiben diese ideengeschichtlich verankerten Niedergangstheorien also Säkularisierungsprozesse, die als Verlust von Geist, Tiefe und Spiritualität wahrgenommen werden, kurz: als Entzauberung der Welt.“
Etwas überraschend kommt Alexander Grau dann auf den Individualismus zu sprechen und auf die Masse mitsamt ihren bekannten Analytikern Gustave Le Bon, Ortega y Gasset und Elias Canetti. Weniger bekannt als diese ist der Soziologe Alfred Seidel, in dem Grau einen Vorläufer Adornos erkennt. und dessen „Bewusstsein als Verhängnis“von 1927 er ausführlich referiert. Seidel: „Somit gilt es den Kampf zu führen gegen die schamlose Selbstbejahung unserer Zeit, um der Reinheit des Geistes und der wahren Kultur willen, sei sie auch in dieser Kultur nicht mehr möglich.“
Alexander Grau resümiert: „Vor die Wahl gestellt zwischen der Obszönität der zeitgenössischen Postkultur und einem griesgrämigen Nihilismus, bleibt als Ausweg nur ein aufgeklärter Kulturpessimismus, in dem der Mensch beides erkennt: die Notwendigkeit des Untergangs dessen, was einmal Kultur war, und die Trauer um deren Verlust.“Bei Ludwig Marcuse hieß das einst in einem provokanten Buchtitel: „Pessimismus. Ein Stadium der Reife“. Und wie ist das nun mit dem Schwefelgeruch? Wer hat ihn erfunden und mit welcher Absicht? Das ist der Teufel sicherlich! Oder Alexander Grau?