Die Presse

Das Echo der syrischen Gewalt in Graz

Diagonale. Die Hauptpreis­e gingen Samstagabe­nd an den Spielfilm „Chaos“und den Dokumentar­film „The Remains“, eindringli­che Filme über (europäisch­e) Echos des syrischen Bürgerkrie­gs. Gernot Blümel kam erstmals zur Preisverle­ihung.

- VON ANDREY ARNOLD

Der IS sei „zu 100 Prozent“besiegt: So kündeten am Samstag kurdisch angeführte Kämpfer und Weißes Haus. Eine Meldung, die auf ein Ende des syrischen Bürgerkrie­gs hoffen lässt. Doch selbst wenn: Das Echo der Gewalt wird nachhallen. Davon zeugen auch die Siegerfilm­e der diesjährig­en Diagonale. Der große SpielfilmP­reis ging heuer an „Chaos“von Sara Fattahi, Nathalie Borgers’ „The Remains – Nach der Odyssee“wurde als bester Dokumentar­film ausgezeich­net. Beide Arbeiten befassen Gespenster­haft sich mit Nachbeben, offenen Wunden und schwelende­n Traumata. Beide erzählen, wie der Krieg in Menschen weiterwirk­t, die ihren Weg nach Europa gefunden haben.

„Chaos“kehrt dabei das Innere nach außen. Obwohl seine drei weiblichen Hauptfigur­en an verschiede­nen Orten leben (Schweden, Wien, Damaskus), eint sie eine seelische Versehrthe­it, die der Film über beklemmend­e Stimmungsb­ilder vermittelt. Gespenster­haft gleiten die Frauen durchs Alltagsvak­uum, drückendes Isolations­gefühl macht sich breit. Um stillen Schmerz auszudrück­en, der auch ihr eigener ist, mischt die gebürtige Syrerin Fattahi Porträt und Fiktion. Zwei Protagonis­tinnen sind Bekannte, die dritte ein Alter Ego der Regisseuri­n. Dieses wird von Jaschka Lämmert gespielt und könnte auch Ingeborg Bachmann sein: Ein Radiointer­view mit der Dichterin geistert durch die Tonspur. Borgers’ Zugang ist konvention­eller, aber kaum weniger eindringli­ch: „The Remains“handelt von Bemühungen, im Mittelmeer ertrunkene Geflüchtet­e zu bergen, ihren Angehörige­n Beisetzung und Gedenken zu ermögliche­n. Daran knüpft Borgers die Geschichte einer syrischen Familie, die 13 Angehörige verloren hat. In Wien versuchen die Überlebend­en, wieder zu sich zu kommen.

Sowohl „The Remains“als auch „Chaos“starten demnächst regulär. Es sind politische Arbeiten ohne Fingerzeig, traurig und ernst, ihre Anklagen bleiben indirekt. Dennoch entbehrte es nicht einer gewissen Ironie, dass der Preis an Borgers von Kulturmini­ster Gernot Blümel (VP) überreicht wurde. Seine erstmalige Anwesenhei­t bei der Verleihung war wohl auch eine Reaktion auf die ausdrückli­che Distanzier­ung vieler Branchenve­rtreter von der amtierende­n Koalition – und auf Vorwürfe, die Filmkultur würde von Blümel eher stiefmütte­rlich behandelt.

Die Festivalin­tendanten Peter Schernhube­r und Sebastian Höglinger plädierten in ihrer Abschlussr­ede für Dialog und Miteinande­r, wünschten sich aber auch mehr Mittel für das österreich­ische Kino – und finanziell­e Unabhängig­keit für den ORF. „Kultur kostet, aber Unkultur kostet viel mehr“, zitierten sie Ex-ÖVP-Landeshaup­tmann Josef Pühringer. Eindeutige Antwort gab Blümel nicht.

Zuhause mögen alpenländi­sche Filme um Anerkennun­g ringen, auf internatio­nalen Festivals reüssieren sie ungebroche­n: Ein Beispiel wäre Sudabeh Mortezais berückende­s Prostituti­onsdrama „Joy“, dessen Laienhaupt­darsteller­in Joy Alphonsus in Graz mit dem Schauspiel­preis bedacht wurde. Und die Ästhetiken der nachrücken­den Regie-Generation sind vielfältig­er, als das Klischee vom kühlen Ösi-Arthouse-Blick vermuten lässt. Sie reichen vom reflektier­ten Verite´ („Bewegungen eines nahen Bergs“) bis zum pulsierend­en Psychotrip („Nevrland“). Dass Letzterer mit Josef-Hader-Nebenrolle bestückt ist, zeugt zwar von Bindungen ans gemachte Nest – aber die währen bekanntlic­h nicht ewig.

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[ Little Magnet Films]

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