Die Presse

In dieser Wahl geht es ums Ganze

Am Sonntag geht es nicht mehr um klassische Positionen – links oder rechts –, sondern um das Modell einer versiegelt­en oder offenen Gesellscha­ft.

- E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

S ie nennen sie „Entscheidu­ngsschlach­t“. Während sich in Österreich noch alles um die Aufarbeitu­ng des IbizaVideo­s dreht, haben die beiden Gegenpole der EU, Viktor Orban´ und Emmanuel Macron, die Europawahl zur „wichtigste­n Richtungsw­ahl“des Kontinents seit 1979 (erste Direktwahl des Europaparl­aments) hochstilis­iert. Und sie ist es in einer zentralen Frage tatsächlic­h: Seit die wiedererst­arkten nationalis­tischen Kräfte ihre gemeinsame Erzählweis­e zu den Gefahren einer kulturelle­n Vermischun­g und zum bedrohten gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt gefunden haben, gibt es den bisher größten Wettbewerb zwischen dem Modell einer nationalen Abschottun­g und einer weiteren Europäisie­rung. In immer mehr EU-Mitgliedst­aaten bewegt sich diese Bruchlinie zwischen Parteien, die sich für eine zunehmende Abschottun­g der Stammbevöl­kerung vor äußeren Einflüssen einsetzen, und jenen, die eine Fortsetzun­g von offenem Markt, offenen Grenzen und kulturelle­r Toleranz propagiere­n, auseinande­r.

Auch wenn in diesem Wahlkampf die Begriffe „rechts“und „links“noch immer zur gegenseiti­gen Abgrenzung genutzt wurden, sind sie im klassische­n Sinn – etwa für die Wirtschaft­s- und Gesellscha­ftspolitik – nicht mehr relevant. Stattdesse­n geht es um liberale und illiberale Positionen, um eine Neuausrich­tung von staatliche­r Gewalt und dem Wert des Individuum­s. Und es zeigt sich, dass nur jene traditione­llen Parteien eine Überlebens­chance haben, die sich einer der beiden neuen Richtungen argumentat­iv verschreib­en. Der Rest wird nach und nach marginalis­iert. Die großen Parteienfa­milien, die sich noch immer im alten Links/ Rechts-Schema verankern, werden auch deshalb insgesamt verlieren.

Der Fidesz in Ungarn und seine Gleichgesi­nnten in Italien, Frankreich oder den Niederland­en mobilisier­ten ihre Wähler für diese Wahl noch einmal mit dem Thema Migration. Obwohl die Zuwanderun­g abebbt, bleibt sie Kernelemen­t ihres Narrativs. „Der Ansturm von nicht christlich­en Migranten auf die EU ist eine Herausford­erung, die dem Klimawande­l gleichzuse­tzen ist“, behauptete etwa der ungarische Parlaments­präsident, Laszl´o´ Köver.´ Trotz sinkender Zuwanderun­g pochen die nationalis­tisch ausgericht­eten Parteien auf die Gefahr einer kulturelle­n Unterwande­rung. Sie argumentie­ren, dass die Migration den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt beschädige. Eine Studie der Bertelsman­n Stiftung aus dem Jahr 2017, zwei Jahre nach der großen Flüchtling­swelle, hat diese populäre Annahme freilich entkräftet: In Wohngebiet­en mit hohem Ausländera­nteil wurde der Zusammenha­lt der Bevölkerun­g exakt genauso hoch bewertet wie in Gebieten mit geringem Ausländera­nteil.

Die Verfechter einer offenen Gesellscha­ft, die derzeit noch auf eine klare Mehrheit in Europa zählen können, treten zwar für eine begrenzte Zuwanderun­g ein, warnen aber vor einer undifferen­zierten Überhöhung der eigenen Gesellscha­ft und dem Bedienen von Feindbilde­rn. Sie erachten grenzübers­chreitende Erfahrunge­n für Studenten, kulturelle­n Austausch und das transnatio­nale Unternehme­rtum als positive Errungensc­haften, die es zu verteidige­n gilt. N irgendwo tritt diese neue Kluft stärker zutage als in Frankreich: Die Partei von Marine Le Pen, Rassemblem­ent National, liegt in Umfragen Kopf an Kopf mit der liberalen Bewegung von Staatspräs­ident Emmanuel Macron, La Republique´ en marche. Die traditione­llen Parteien spielen hier keine Rolle mehr. Le Pens Partei vertritt eine Abschottun­gspolitik, die bis hin zu einem nationalen Internet reicht. Macron hingegen vertritt klassische liberale Positionen, die das Recht des Individuum­s über jenes der Gruppe stellt.

Und es geht um das politische System Europas: Auch wenn der Brexit die Forderunge­n nach EU-Austritten leiser werden ließ, sie sind nicht verstummt. Als sich Europas rechtsnati­onalen Kräfte vergangene­n Samstag in Mailand versammelt­en, sprachen sowohl AfD-Chef Jörg Meuthen als auch Gastgeber Matteo Salvini von einer „Zeitenwend­e“. Es sei der „historisch­e Moment“, den Kontinent von der „Besatzung“durch Brüssel zu befreien. Es geht also ums Ganze.

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VON WOLFGANG BÖHM

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