Die Angst der SPD-Spitze vor einem Debakel
Bürgerschaftswahl. Die Hansestadt ist klein, arm und plötzlich wichtig. Denn in der SPD soll es Putschgelüste geben. Mit dabei: Martin Schulz.
Im politischen Berlin herrscht vor dem Wahlsonntag höchste Nervosität. Und das nicht nur wegen des europaweiten Urnengangs, sondern auch wegen der zeitgleichen Bürgerschaftswahl in Bremen. Es mag seltsam klingen, aber kommt es bei der Wahl im kleinsten deutschen Bundesland zu einem politischen Erdbeben, dann zittert auch das Willy-BrandtHaus, die SPD-Bundeszentrale.
Denn in der Heimat der Becks Brauerei, der Stadtmusikanten und des Satirikers Jan Böhmermann regiert schon immer die SPD. Sie ist dort stärkste Partei. Doch dieses Naturgesetz könnte am Sonntag gebrochen werden. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte droht den Sozialdemokraten der Verlust von Platz eins. In Umfragen liegt die CDU zwischen 26 und 28 Prozent und damit knapp vor der SPD (23 bis 25 Prozent). Das rotgrüne Regierungsbündnis in der Hansestadt steht am Wahlabend ziemlich sicher ohne Mehrheit da. Einen Machtverlust dürfte das zwar nicht bedeuten: SPD und Grüne könnten die Linkspartei mit ins Boot holen. Aber der Verlust von Platz eins wäre ein Debakel.
Derzeit regiert SPD-Bürgermeister Carsten Sieling hinter der gotischen Fassade des Bremer Rathauses, einem Unesco-Weltkulturerbe. Der SPD-Mann ist beliebter als seine eigene Partei und als sein Herausforderer Carsten Meyer-Heder von der CDU. Aber die Christdemokraten setzen auf ein Thema, das in jedem Regionalwahlkampf ein heißes Eisen ist: Schule. Denn Bildung ist Ländersache und Bremen in der Pisa-Studie das Schlusslicht unter den Bundesländern. Die CDU prangert Unterrichtsausfälle und Lehrermangel an in diesem Wahlkampf, der vom Tod des Bremer CDU-Chefs Jörg Kastendiek überschattet wurde.
Bremen mit seinen 560.000 Einwohnern hält viele Negativrekorde. Nicht nur im Bildungsbereich. Der Strukturwandel hat die Stadt an der Weser tief gezeichnet, also das Sterben der Werften, der Schiffbauer. Nirgends in Deutschland sind die Arbeitslosigkeit (9,7 Prozent) und der Anteil an Kindern in Hartz-IVHaushalten (31,2 Prozent) höher als im Stadtstaat im Norden der Republik. Die Pro-Kopf-Verschuldung liegt bei über 30.000 Euro – auch das ein trauriger Rekord.
Ein Absturz in Bremen und ein zeitgleiches Debakel bei der EUWahl: Vor diesem Szenario zittern sie in der SPD-Führung. Die Schmerzgrenze der SPD hat sich zwar zuletzt immer weiter nach unten verschoben. Bei der EU-Wahl soll man schon zufrieden sein, wenn man näher bei 20 Prozent als bei 15 Prozent landet. Erste SPDAbgeordnete streuen in deutschen Medien aber Putschabsichten gegen die glücklose SPD-Chefin, Andrea Nahles. Falls es in Bremen schiefgeht. Sie wollen die Macht der Partei- und Fraktionschefin dann zumindest halbieren. Achim Post könnte demnach die SPD-Vorsitzende als Fraktionschefin beerben wollen. Falls es in Bremen schiefgeht. Aber noch ein zweiter Name fällt: Martin Schulz. Schon länger gibt es das Gerücht, der tief gefallene Hoffnungsträger der SPD, derzeit einfacher Abgeordneter, könnte auf den Fraktionsvorsitz schielen. Nahles stellte ihn deshalb in einem Vieraugengespräch zur Rede, wie „Der Spiegel“berichtet.
Schulz soll jedenfalls seine Chancen auf den Fraktionsvorsitz ausgelotet haben. Nur für den Fall, dass Nahles bei der nächsten regulären Wahl im September nicht mehr für den Posten kandidiert . . .
Auf den letzten Metern vor der Wahl versuchte die Bundes-SPD noch einmal, den Bremer Sozialdemokraten Rücken- statt Gegenwind zu geben. Sie lancierte ihre populären Pläne für eine Mindestrente vulgo Mindestpension. Aber zunächst scheint auch das nicht geholfen zu haben.
Ein roter Schiffbruch an der Weser könnte die Koalition auch ins Wanken bringen, die SPD-Basis dann vollends gegen die ungeliebte Große Koalition aufbegehren. Die Genossen mussten zuletzt viel ertragen. Kleiner Rückblick: In Bayern stürzte die SPD in die Einstelligkeit ab, auch in Hessen überholten sie die Grünen. Die Schmerzgrenze mag sich verschieben. Aber irgendwann ist sie erreicht.