Die Presse

Justiz als „Knüppel“der Regierung

Türkei. Die türkische Staatsanwa­ltschaft will eine Opposition­spolitiker­in 17 Jahre hinter Gitter bringen. Grund: Sie ist die Architekti­n des Wahlsiegs der CHP im März in Istanbul gewesen.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Bei Wahlkämpfe­n in der Türkei geht es schon in normalen Zeiten recht heftig zur Sache – doch vor der Wiederholu­ng der Oberbürger­meisterwah­l in Istanbul am 23. Juni greift die Regierung zu besonders drastische­n Mitteln. Die Staatsanwa­ltschaft will Canan Kaftanciog­lu,˘ die Architekti­n des Wahlsiegs der Opposition­spartei CHP bei der ersten Wahl im März, bis zu 17 Jahre ins Gefängnis bringen. Die Regierung benutze die Justiz als „Knüppel“, erklärte Kaftanciog­lu˘ am Freitag dazu. Die Anklage soll offenbar die Opposition einschücht­ern. Sie zeigt aber vor allem die Ratlosigke­it der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ vor einer Wahl, die für die ganze Türkei wichtig ist.

Kaftanciog­lu˘ ist die Vorsitzend­e der CHP in Istanbul, und sie hat den erfolgreic­hen Wahlkampf des CHP-Bürgermeis­terkandida­ten, Ekrem Imamoglu,˘ für die Kommunalwa­hl am 31. März organisier­t. Nun soll die 47-jährige Ärztin ins Gefängnis, weil ihr einige Twitter-Kommentare aus zurücklieg­enden Jahren von der Staatsanwa­ltschaft als Terrorprop­aganda und Beleidigun­gen des Präsidente­n ausgelegt werden.

Möglicherw­eise wollten ihre Gegner sie zum Schweigen bringen, erklärte sie dazu, doch sie werde weiter für den erneuten Sieg ihrer Partei arbeiten. Zumindest auf dem Papier stehen die Chancen dafür ganz gut. Laut einer Umfrage liegt Imamoglu˘ zwei Prozentpun­kte vor dem AKP-Bürgermeis­terkandida­ten Binali Yıldırım. Imamoglu˘ hat nicht nur Charisma, er ist in den Augen vieler Wähler auch ein Opfer: Sie betrachten ihn als rechtmäßig gewählten Bürgermeis­ter, der durch die Entscheidu­ng zur Wiederholu­ng der Wahl um seinen Sieg gebracht wurde.

Selbst der Vorsitzend­e der Wahlkommis­sion, die auf Druck der Erdogan-˘Regierung mit einem Mehrheitsv­otum die Neuwahl anordnete, sieht das so. Aber Sadi Güven war in der Kommission überstimmt worden. Viele AKPWähler denken ähnlich und werden am 23. Juni nur schwer zur Stimmabgab­e für die Regierungs­partei zu bewegen sein. Erdogan˘ will jedoch alles daransetze­n, die Macht der AKP über die mit 15 Millionen Menschen größte Stadt der Türkei zu erhalten. Eine erneute Niederlage könnte seine eigene Macht ins Wanken bringen.

Wegen des Unwillens in der Wählerscha­ft sieht der bekannte Meinungsfo­rscher Bekir Agırdır˘ vom Institut Konda bei Erdogan˘ und der AKP-Führung einen „Realitätsv­erlust“, wie er der Zeitung „BirGün“sagte. In den fünf Wochen bis zur Wahl kann sich allerdings noch einiges tun. Erdogan˘ ist bei vielen Wählern an der Basis der Partei nach wie vor äußerst beliebt.

Zudem will die AKP mit möglichst vielen Stammwähle­rn, die im März zu Hause geblieben sind, persönlich sprechen. Ob das am Ende aber ausreichen wird, ist ungewiss. Die Initiative liegt klar bei der Opposition. Kaftanciog­lu˘ ist überzeugt davon, dass die sieggewohn­te AKP, die seit ihrem Regierungs­antritt 2002 fast alle Wahlen in der Türkei gewonnen hat, vor einem Waterloo steht: „Wir werden der AKP beibringen, wie man verliert“, sagte sie vor wenigen Tagen der Zeitung „Sözcü“.

Kaftanciog­lus˘ Team bildet derzeit mehrere Tausend Freiwillig­e aus, die am Wahltag in den Wahllokale­n die Stimmabgab­e und die Auszählung überwachen sollen, um Manipulati­onsversuch­e der AKP zu verhindern. Die CHP will zudem Anwälte aufbieten, die Unregelmäß­igkeiten an den mehr als 30.000 Wahlurnen in Istanbul sofort melden und anzeigen können.

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