Zwei dicke rote Striche
Vergangenen März wurde in Rechnitz wieder einmal nach den sterblichen Überresten von 180 Juden gegraben. Wieder einmal vergebens. Man weiß, dass sie 1945 in den frühen Morgenstunden des Palmsonntags vom Bahnhof zum Kreuzstadl, einem landwirtschaftlichen Nutzbau mit kreuzförmigem Grundriss, gebracht und dort erschossen wurden. Man weiß, dass die Nazis sie in der Nähe des Tatortes verscharrten. Man hat auch die Leichen der Juden gefunden, welche die Grube ausheben mussten und dann ebenfalls ermordet wurden. Man will auf würdige Weise bestatten, was von den anderen noch vorhanden ist – doch man findet sie nicht.
Österreich ist es sich aber schuldig, ihnen zu einer Grabstätte zu verhelfen. Ihre Gebeine müssen da sein. Und sie können nicht weit sein. Sie wurden nicht exhumiert und anderswo bestattet – davon wüsste man. Ein Mysterium also? Nicht, wenn es jemanden gab, der ein Interesse am Verschwinden dieser Toten gehabt haben könnte. Nicht, wenn sich Gelegenheit geboten hätte, dies ohne große Mühe zu bewerkstelligen.
Im Vorfeld des Prozesses gegen die mutmaßlichen Täter, der im Sommer 1948 stattfinden sollte, schickte das Volksgericht Wien am 21. Februar 1948 dem Gendarmerieposten Rechnitz vier Blätter der österreichischen Landesaufnahme im Maßstab 1:25.000 mit der Bitte, alle für das Verfahren relevanten Orte, darunter die Lage der Gräber, mit roter Tinte einzutragen. Um beschleunigte Erledigung wurde ersucht. Sie gingen bereits am 27. Februar zurück, eines mit den gewünschten Eintragungen, drei so, wie sie waren, und so liegen sie bis heute im dicken RechnitzAkt unter der Nummer Vg12eVr2832/45 im Wiener Stadt- und Landesarchiv.
Nach dem Plan mit den Eintragungen müsste das Grab ziemlich genau zu orten sein. Dort aber ist keine Spur der Toten auffindbar. Was beim Studium der Karte jedoch schnell auffällt, sind zwei dicke Striche, die, an Rechnitz vorbei, zwischen Kreuzstadl und rot bezeichneter Grabstelle, und zwar in deren nächster Nähe, hindurchgehen. Es handelt sich um den im Bericht über die Untersuchung des Massengrabes im Jahre 1946 erwähnten Panzergraben.
Auch Rechnitz war Schauplatz der hektischen Arbeitseinsätze, die im Herbst 1944 begannen. Der „Südostwall“, ein System von vier Meter tiefen Gräben, Panzerhindernissen und behelfsmäßigen Bunkern, sollte den Vorstoß der Roten Armee aufhalten, konnte aber die Befreiung Wiens, wenn überhaupt, nur minimal verzögern. Ein Heer von Zehntausenden ungarischen Juden musste vor allem die schweren Erdarbeiten durchführen. Sie wurden, völlig unzureichend ernährt, gequält, misshandelt und ohne medizinische Betreuung, in zugigen Hallen, Scheunen und Kellern zusammengepfercht. Schätzungsweise ein Drittel starb oder wurde ermordet.
Der Massenmord von Rechnitz ist nur einer in der Kette der in der Endphase des NS-Regimes begangenen, unvorstellbaren Grausamkeiten und Mordtaten. Sie dominieren die Liste der in Österreich vollstreckten 30 Todesurteile gegen NS-Verbrecher. Allein wegen der Untaten beim „Todesmarsch von Engerau“fällte das Volksgericht Wien neun Todesurteile.
Geboren 1927 in Wien. Theaterkritiker, Autor. 2016 im Studien Verlag: „Nationalsozialisten vor dem Volksgericht Wien“. Demnächst bei Böhlau: „Staat, wach auf! Warum die Wirtschaft einen externen Regulator braucht“Präsentation: am 12 Juni im Wie feierten, Waffen und Munition verteilt, und Podezin sagte: „Gehen wir!“
In 14 Verhandlungstagen konnte nicht geklärt werden, wer wann wo anwesend war, wer was gesehen oder gewusst, wer sich mehr oder weniger oder gar nicht an der Erschießung der 180 Juden und am nächsten Tag auch noch der Totengräber beteiligt hatte. Einer wollte nicht gewusst haben, dass die Juden erschossen wurden, obwohl seine Mutter bereits ausgesagt hatte, er habe das Haus mit den Worten verlassen, dass er Juden fahren müsse, die erschossen werden. Ein Zeuge sagte, die Herren seien nur kurz vom Fest weg gewesen, obwohl sie selbst längst eingeräumt hatten, sie seien erst am frühen Morgen zurückgekommen. Ein Zeuge, der beim Untersuchungsrichter noch genau wusste, wo ein Angeklagter Juden misshandelt hatte, wusste überhaupt nichts mehr, wollte diesen Angeklagten nun sogar entlasten und wurde im Gerichtssaal verhaftet. Podezin war geflohen.
In der Causa Rechnitz war das Gericht mit einem so umfassenden kollektiven Gedächtnisverlust konfrontiert, dass es zu zwei Freisprüchen, zwei Rücktritten des Staatsanwaltes von der Anklage und lediglich zwei Schuldsprüchen kam. Und zwar zu einer Verurteilung zu acht Jahren wegen entfernter Mitschuld am Mord und Hochverrat im Falle G. und einer weiteren zu fünf Jahren wegen Quälerei und Verletzung der Menschenwürde sowie Hochverrat im Falle M. Hochverrat, weil beide „Illegale“gewesen waren.
Der Prozess fand im Sommer 1948 statt. Das große Vergeben und Vergessen hatte längst begonnen, und die beiden Großparteien umschmeichelten die Nazis als künftige Wähler. Hier noch nicht: G. und M. beteuerten dem Gericht, niemals „Illegale“gewesen zu sein, worauf der Gemeinderat des benachbarten Oberwart aufgrund einer „vor Eingehen in die Tagesordnung“seiner Sitzung vom 5. Juli verabschiedeten Entschließung dem Gericht einen emotionalen Brief schrieb: Man habe mit Empörung gelesen, dass die Angeklagten G. und M. ihre Illegalität bestritten. Es werde „allgemein als Hohn empfunden, wenn ein höheres österreichisches Volksgericht durch die unwahre Behauptung, dass G. und M. nicht illegal waren, zum Besten gehalten wird.“Vier Stempel, vier Unterschriften: Der Bürgermeister, die ÖVP, die SPÖ und die KPÖ.
Das war alles andere als eine Pflichtübung. Das war echter Zorn. Und Ausdruck einer allgemeinen Stimmung, die im Widerspruch zum Zeitgeist der falschen Versöhnlichkeit und des großen Schwammdrübers stand. Sicher dachte man im benachbarten Rechnitz nicht anders. Rechnitz lebte aber noch immer in Furcht und Schrecken vor den Nazis. Oder, seit dem Mord an Karl Muhr, schon wieder.
Karl Muhr, ein ehemaliger Waffenmeister des Volkssturms, war unvorsichtig genug, offen zu sagen, er werde alles mitteilen, was er über das Palmsonntag Massaker wis Massenmord, erschossen neben seinem erschossenen Hund, halb verkohlt unter einem Haufen Holz. Auch sein Haus war abgebrannt und mit seinem Haus der Schreibtisch mit seiner umfangreichen Korrespondenz. Unmittelbar darauf begann das große Schweigen von Rechnitz. Das Gericht lernte es kennen. Das Schweigen ist versteinert. Filmemacher, die Fragen stellten, stießen noch Jahrzehnte später auf eine Mauer.
Die Forderung nach einem würdigen Grab und einem Gedenkstein mit entsprechender Inschrift für die Opfer stand seit 1945 im Raum. Ein Denkmal für tote Juden war aber wohl das Letzte, was die Nazis in Rechnitz wollten. Die Gelegenheit, die Gebeine der ermordeten Juden und damit auch die Gefahr eines solchen Mahnmals ein für alle Mal verschwinden zu lassen, bot sich ihnen, als im Burgenland überall mit dem Zuschütten der Panzergräben begonnen wurde. Angesichts der Angst, die sie verbreiteten, dürfte es für die Ortsnazis kein großes Problem dargestellt haben, dafür zu sorgen, dass auch die sterblichen Überreste der 180 Juden in den Panzergraben gebaggert wurden können nicht weit sein. Daher wird man sie dort wohl finden. Ein Stück des Panzergrabens wurde auch bereits aufgegraben. Aber nicht dort, wo der Weg vom Massengrab zum Graben am kürzesten war. Genau dort bilden die überzogenen Geldforderungen eines Bauern derzeit noch das Hindernis.
180 tote Juden, zweimal verscharrt. Mit den Gebeinen von 180 Menschen wird man, bildlich gesprochen, auch die Umstände ausgraben, die so etwas möglich gemacht haben. Einmal verscharrt von den Mördern und nochmals verscharrt von guten Österreichern. Es war die Zeit, in der die Verlogenheit explodierte. Die „Ehemaligen“als Verführte anzusprechen, die sich vom NSUngeist abgewendet und in gute Österreicher verwandelt hatten, war quer durch die Parteienlandschaft das politisch Korrekte schlechthin. Zugleich bewiesen die Parteien aber, dass sie es selber nicht glaubten und den typischen Nazi, den kleinen wie den großen, als einen gegenüber dem Leid anderer unempfindlichen Menschen einschätzten, den Mord, Totschlag und Niedertracht nicht störten, solange er nicht selbst das Opfer war.