Europas größte Wahl
Analyse. In mehreren Ländern wird der Sonntag große Verwerfungen in der Parteienlandschaft bringen. Sie werden das Machtgefüge in der EU wesentlich ändern.
„Vote together“heißt die Kampagne, die der deutsche Fotograf Wolfgang Tillmans kreiert hat. Mit Plakaten in den Sprachen der Union ruft er dazu auf, an der Wahl zum EU-Parlament teilzunehmen. Ob die rechtsnationalen Kräfte trotz Ibiza-Video gestärkt werden, die Grünen eine Renaissance erleben, die Liberalen zulegen oder die traditionellen Parteien verlieren? Europas größte Wahl in 28 Mitgliedstaaten läuft bis Sonntag.
Brüssel/Wien. Noch ehe nur ein Stimmzettel ausgezählt ist, herrscht Klarheit: Diese Wahlen zum Europäischen Parlament werden ein weltanschaulich so stark fragmentiertes Parteienbild ergeben wie noch nie zuvor in der 40-jährigen Geschichte dieser größten länderübergreifenden Wahl der Welt. Die beiden größten Parteifamilien, die Europäische Volkspartei sowie die Sozialdemokraten, werden erstmals nicht mehr gemeinsam die absolute Mehrheit stellen.
In mehreren Mitgliedstaaten stehen signifikante Umwälzungen bevor – vor allem erstmals in allen großen. „Die Presse“hat jene Staaten analysiert, auf die man am Sonntagabend ein besonderes Augenmerk legen muss, um die Rahmenbedingungen zu verstehen, unter denen das neue Europaparlament ab 2. Juli für fünf Jahre agieren wird.
Frankreich (74 Sitze)
Wird Marine Le Pens Partei wie schon 2014 Nummer eins? Oder gewinnt La Republique´ en marche, die Partei von Präsident Emmanuel Macron, auch diese Wahl? Seit Wochen liegen die beiden auf gleicher Höhe, zuletzt hatte Le Pens rechtspopulistischer Rassemblement National (der frühere Front National) knapp die Nase vorne und würde 22 Mandate erlangen (En Marche erhielte 21). Allerdings wären das um zwei Mandate weniger für Le Pen als 2014. Und sehr stabil ist ihre Partei nicht; am Ende der Legislaturperiode waren neun der 24 Mandatare abgesprungen. Stark verlieren dürften die zur Europäischen Volkspartei zählenden Republi-´ cains, die nach letztem Stand der Umfragen von 20 auf zwölf Mandate abzurutschen drohen. Die Sozialisten wiederum müssen fürchten, die Mindestschwelle von fünf Prozent der Wählerstimmen nicht zu übertreffen; sie wären damit erstmals nicht im Europaparlament vertreten.
Italien (73 Sitze)
Die Lega wird voraussichtlich als stärkste Kraft am rechtspopulistischen Rand von Europas Parteienspektrum aus dieser Wahl hervorgehen. Sie dürfte ihre Mandate auf 25 verfünffachen. Ihr linkspopulistischer Koalitionspartner, die Fünf-Sterne-Bewegung, könnte zwar von 17 auf 19 Mandate zulegen, würde aber trotzdem klar zurückbleiben. Schwer geschlagen werden dürfte der sozialdemokratische Partido Democratico, der im Jahr 2014 noch knapp 41 Prozent und 31 Mandate gewann. Ihm werden eine Halbierung der Stimmen und ein Verlust von 13 Mandaten prognostiziert. Auch die Forza Italia von Silvio Berlusconi muss sich auf eine herbe Niederlage einstellen: von zuletzt knapp 17 Prozent auf etwas mehr als neun, was einem Rückgang von 13 auf sieben Abgeordnete entspräche. Spanien (53 Sitze) Setzt der sozialistische Ministerpräsident Pedro Sanchez´ seinen Lauf fort? Nach seinem Sieg bei den spanischen Parlamentswahlen vor einem Monat sieht es für ihn auch jetzt gut aus. Bei 30 Prozent sehen ihn die letzten Umfragen, 23 Prozent erzielte er vor fünf Jahren. Das brächte einen Zuwachs der Mandate von 14 auf 17, und vor allem würden die Spanier damit möglicherweise die SPD überholen und größte nationale Delegation in der Fraktion werden. Verluste müssen hingegen die Christdemokraten des Partido Popular erwarten, die von 16 auf zehn Mandate schrumpfen dürften. Damit lägen sie auf gleicher Höhe mit den liberalen Ciudadanos, die erstmals bei der Europawahl kandidieren. Die linkspopulistische Partei Podemos könnte von fünf auf acht Sitze wachsen.
Rumänien (32 Sitze)
Im zweitgrößten postkommunistischen Mitgliedstaat bahnt sich ein kleines politisches Erdbeben an. Die von Korruptionsskandalen und dem Rechtsstaatskonflikt mit der EU-Kommission geschwächte sozialdemokratische Regierungspartei PSD dürfte von 37,6 Prozent und 16 Mandaten auf 24 Prozent abstürzen. Stärkste Kraft wäre derzeit knapp davor die zur Europäischen Volkspartei zählende Nationalliberale Partei mit 27 Prozent. Die größte Überraschung hält jedoch die zur liberalen Parteifamilie Alde zählende Allianz 2020, die sich aus der proeuropäischen Bürgerbewegung „Union zur Rettung Rumäniens“und der neuen Partei des früheren EU-Agrarkommissars Dacian Ciolos¸ bildet, bereit. Die Allianz liegt im Mittelwert der Umfragen bei 17,5 Prozent, obwohl sie sich erst im Frühling formiert hat.
Dänemark (13 Sitze)
Das kleine skandinavische Land bietet dieses Mal Anschauungsunterricht in der Frage, ob Sozialdemokraten von den
Wählern belohnt werden, wenn sie in Fragen der Zuwanderung und Asylpolitik scharf nach rechts ausscheren. Die derzeit oppositionellen Sozialdemokraten fahren hier unter ihrer Vorsitzenden Mette Frederiksen eine härtere Linie als früher und könnten von 19,1 auf mehr als 25 Prozent zulegen. Parallel dazu würde laut Umfragenstand die rechtspopulistische Dänische Volkspartei von 26,6 auf rund 16 Prozent sinken. Leicht könnte die rechtsliberale Regierungspartei Venstre zulegen, von 16,7 auf 18 Prozent.
Großbritannien (73 Sitze)
Großbritannien hat bereits am Donnerstag gewählt, das Ergebnis gibt es erst am Sonntagabend, Exit Polls sind gesetzlich verboten. Vor dem Hintergrund der völlig verfahrenen Verhandlungen um den britischen EU-Austritt zeichnet sich ein Erdrutschsieg der populistischen Brexit Party von Nigel Farage ab, der einen harten Bruch mit der EU befürwortet. Letzten Umfragen zufolge kann die Brexit Party mit rund einem Drittel der Stimmen bzw. 25 Mandaten rechnen. Als zweiten Wahlsieger haben die Demoskopen die Liberaldemokraten ausgemacht, die gegen den EU-Austritt agitieren und rund 16 Prozent der Stimmen (zwölf Mandate) erreichen dürften. Den britischen Großparteien droht hingegen ein Debakel. Die oppositionelle Labour Party liegt in Umfragen zwischen 20 und 15 Prozent auf Platz zwei – nach knapp 25 Prozent bei der EU-Wahl 2014. Und den regierenden Tories steht ein historisches Desaster bevor: Sie dürfen mit rund zehn Prozent rechnen und wären damit auf Platz vier zurückgefallen.
Polen (51 Sitze)
Ein Skandal rund um Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche Polens hat in den vergangenen Tagen Dynamik in den Wahlkampf gebracht. Die nationalpopulistische Regierungspartei PiS kam durch die Enthüllungen unter Druck. Sie liegt mit 38,5 Prozent der Stimmen (22 Mandate) nur noch zwei Prozentpunkte vor der Europäischen Koalition der Oppositionsparteien (36,5 Prozent bzw. 20 Mandate). Die linksliberale Neugründung Wiosna liegt demnach mit knapp zehn Prozent der Stimmen bzw. sechs Mandaten auf Platz drei.
Niederlande (26 Sitze)
Die Wahl in den Niederlanden fand bereits am Donnerstag statt – und sie endete Wählerbefragungen zufolge überraschend. Stimmen die Prognosen, sind die Sozialdemokraten die Wahlsieger mit 18 Prozent der Stimmen bzw. fünf Mandaten. Die als Favoriten gesetzten Liberalen von Premier Mark Rutte landen demnach mit 15 Prozent und vier Mandaten dahinter, gefolgt von den Christdemokraten mit gut zwölf Prozent der Stimmen und ebenfalls vier Mandaten. Überraschung Nummer zwei: Die rechtspopulistische Revolte fand nicht statt. Die Freiheitspartei von Geert Wilders fiel demnach von drei auf ein EU-Mandat zurück, das neu gegründete Forum für Demokratie von Thierry Baudet schaffte drei Mandate.
Ungarn (21 Sitze)
In Ungarn sind die Aussichten relativ statisch. Die nationalpopulistische Regierungspartei Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orban´ wird mit prognostizierten 55 Prozent der abgegebenen Stimmen respektive 14 Sitzen der überragende Wahlsieger sein. Mit den Medien des Landes unter mittelbarer und unmittelbarer Kontrolle konnte Orban´ ungestört seine Kampagne gegen vermeintliche hegemoniale Bestrebungen der EU führen. Am nächsten dürften dem illiberalen Regierungschef die rechtsextreme Jobbik-Partei, die sozialdemokratische Demokratische Koalition und die ungarischen Sozialisten kommen, die jeweils mit zwei Mandaten rechnen dürfen.