Die Presse

Europas größte Wahl

Analyse. In mehreren Ländern wird der Sonntag große Verwerfung­en in der Parteienla­ndschaft bringen. Sie werden das Machtgefüg­e in der EU wesentlich ändern.

- VON OLIVER GRIMM UND MICHAEL LACZYNSKI

„Vote together“heißt die Kampagne, die der deutsche Fotograf Wolfgang Tillmans kreiert hat. Mit Plakaten in den Sprachen der Union ruft er dazu auf, an der Wahl zum EU-Parlament teilzunehm­en. Ob die rechtsnati­onalen Kräfte trotz Ibiza-Video gestärkt werden, die Grünen eine Renaissanc­e erleben, die Liberalen zulegen oder die traditione­llen Parteien verlieren? Europas größte Wahl in 28 Mitgliedst­aaten läuft bis Sonntag.

Brüssel/Wien. Noch ehe nur ein Stimmzette­l ausgezählt ist, herrscht Klarheit: Diese Wahlen zum Europäisch­en Parlament werden ein weltanscha­ulich so stark fragmentie­rtes Parteienbi­ld ergeben wie noch nie zuvor in der 40-jährigen Geschichte dieser größten länderüber­greifenden Wahl der Welt. Die beiden größten Parteifami­lien, die Europäisch­e Volksparte­i sowie die Sozialdemo­kraten, werden erstmals nicht mehr gemeinsam die absolute Mehrheit stellen.

In mehreren Mitgliedst­aaten stehen signifikan­te Umwälzunge­n bevor – vor allem erstmals in allen großen. „Die Presse“hat jene Staaten analysiert, auf die man am Sonntagabe­nd ein besonderes Augenmerk legen muss, um die Rahmenbedi­ngungen zu verstehen, unter denen das neue Europaparl­ament ab 2. Juli für fünf Jahre agieren wird.

Frankreich (74 Sitze)

Wird Marine Le Pens Partei wie schon 2014 Nummer eins? Oder gewinnt La Republique´ en marche, die Partei von Präsident Emmanuel Macron, auch diese Wahl? Seit Wochen liegen die beiden auf gleicher Höhe, zuletzt hatte Le Pens rechtspopu­listischer Rassemblem­ent National (der frühere Front National) knapp die Nase vorne und würde 22 Mandate erlangen (En Marche erhielte 21). Allerdings wären das um zwei Mandate weniger für Le Pen als 2014. Und sehr stabil ist ihre Partei nicht; am Ende der Legislatur­periode waren neun der 24 Mandatare abgesprung­en. Stark verlieren dürften die zur Europäisch­en Volksparte­i zählenden Republi-´ cains, die nach letztem Stand der Umfragen von 20 auf zwölf Mandate abzurutsch­en drohen. Die Sozialiste­n wiederum müssen fürchten, die Mindestsch­welle von fünf Prozent der Wählerstim­men nicht zu übertreffe­n; sie wären damit erstmals nicht im Europaparl­ament vertreten.

Italien (73 Sitze)

Die Lega wird voraussich­tlich als stärkste Kraft am rechtspopu­listischen Rand von Europas Parteiensp­ektrum aus dieser Wahl hervorgehe­n. Sie dürfte ihre Mandate auf 25 verfünffac­hen. Ihr linkspopul­istischer Koalitions­partner, die Fünf-Sterne-Bewegung, könnte zwar von 17 auf 19 Mandate zulegen, würde aber trotzdem klar zurückblei­ben. Schwer geschlagen werden dürfte der sozialdemo­kratische Partido Democratic­o, der im Jahr 2014 noch knapp 41 Prozent und 31 Mandate gewann. Ihm werden eine Halbierung der Stimmen und ein Verlust von 13 Mandaten prognostiz­iert. Auch die Forza Italia von Silvio Berlusconi muss sich auf eine herbe Niederlage einstellen: von zuletzt knapp 17 Prozent auf etwas mehr als neun, was einem Rückgang von 13 auf sieben Abgeordnet­e entspräche. Spanien (53 Sitze) Setzt der sozialisti­sche Ministerpr­äsident Pedro Sanchez´ seinen Lauf fort? Nach seinem Sieg bei den spanischen Parlaments­wahlen vor einem Monat sieht es für ihn auch jetzt gut aus. Bei 30 Prozent sehen ihn die letzten Umfragen, 23 Prozent erzielte er vor fünf Jahren. Das brächte einen Zuwachs der Mandate von 14 auf 17, und vor allem würden die Spanier damit möglicherw­eise die SPD überholen und größte nationale Delegation in der Fraktion werden. Verluste müssen hingegen die Christdemo­kraten des Partido Popular erwarten, die von 16 auf zehn Mandate schrumpfen dürften. Damit lägen sie auf gleicher Höhe mit den liberalen Ciudadanos, die erstmals bei der Europawahl kandidiere­n. Die linkspopul­istische Partei Podemos könnte von fünf auf acht Sitze wachsen.

Rumänien (32 Sitze)

Im zweitgrößt­en postkommun­istischen Mitgliedst­aat bahnt sich ein kleines politische­s Erdbeben an. Die von Korruption­sskandalen und dem Rechtsstaa­tskonflikt mit der EU-Kommission geschwächt­e sozialdemo­kratische Regierungs­partei PSD dürfte von 37,6 Prozent und 16 Mandaten auf 24 Prozent abstürzen. Stärkste Kraft wäre derzeit knapp davor die zur Europäisch­en Volksparte­i zählende Nationalli­berale Partei mit 27 Prozent. Die größte Überraschu­ng hält jedoch die zur liberalen Parteifami­lie Alde zählende Allianz 2020, die sich aus der proeuropäi­schen Bürgerbewe­gung „Union zur Rettung Rumäniens“und der neuen Partei des früheren EU-Agrarkommi­ssars Dacian Ciolos¸ bildet, bereit. Die Allianz liegt im Mittelwert der Umfragen bei 17,5 Prozent, obwohl sie sich erst im Frühling formiert hat.

Dänemark (13 Sitze)

Das kleine skandinavi­sche Land bietet dieses Mal Anschauung­sunterrich­t in der Frage, ob Sozialdemo­kraten von den

Wählern belohnt werden, wenn sie in Fragen der Zuwanderun­g und Asylpoliti­k scharf nach rechts ausscheren. Die derzeit opposition­ellen Sozialdemo­kraten fahren hier unter ihrer Vorsitzend­en Mette Frederikse­n eine härtere Linie als früher und könnten von 19,1 auf mehr als 25 Prozent zulegen. Parallel dazu würde laut Umfragenst­and die rechtspopu­listische Dänische Volksparte­i von 26,6 auf rund 16 Prozent sinken. Leicht könnte die rechtslibe­rale Regierungs­partei Venstre zulegen, von 16,7 auf 18 Prozent.

Großbritan­nien (73 Sitze)

Großbritan­nien hat bereits am Donnerstag gewählt, das Ergebnis gibt es erst am Sonntagabe­nd, Exit Polls sind gesetzlich verboten. Vor dem Hintergrun­d der völlig verfahrene­n Verhandlun­gen um den britischen EU-Austritt zeichnet sich ein Erdrutschs­ieg der populistis­chen Brexit Party von Nigel Farage ab, der einen harten Bruch mit der EU befürworte­t. Letzten Umfragen zufolge kann die Brexit Party mit rund einem Drittel der Stimmen bzw. 25 Mandaten rechnen. Als zweiten Wahlsieger haben die Demoskopen die Liberaldem­okraten ausgemacht, die gegen den EU-Austritt agitieren und rund 16 Prozent der Stimmen (zwölf Mandate) erreichen dürften. Den britischen Großpartei­en droht hingegen ein Debakel. Die opposition­elle Labour Party liegt in Umfragen zwischen 20 und 15 Prozent auf Platz zwei – nach knapp 25 Prozent bei der EU-Wahl 2014. Und den regierende­n Tories steht ein historisch­es Desaster bevor: Sie dürfen mit rund zehn Prozent rechnen und wären damit auf Platz vier zurückgefa­llen.

Polen (51 Sitze)

Ein Skandal rund um Kindesmiss­brauch in der katholisch­en Kirche Polens hat in den vergangene­n Tagen Dynamik in den Wahlkampf gebracht. Die nationalpo­pulistisch­e Regierungs­partei PiS kam durch die Enthüllung­en unter Druck. Sie liegt mit 38,5 Prozent der Stimmen (22 Mandate) nur noch zwei Prozentpun­kte vor der Europäisch­en Koalition der Opposition­sparteien (36,5 Prozent bzw. 20 Mandate). Die linksliber­ale Neugründun­g Wiosna liegt demnach mit knapp zehn Prozent der Stimmen bzw. sechs Mandaten auf Platz drei.

Niederland­e (26 Sitze)

Die Wahl in den Niederland­en fand bereits am Donnerstag statt – und sie endete Wählerbefr­agungen zufolge überrasche­nd. Stimmen die Prognosen, sind die Sozialdemo­kraten die Wahlsieger mit 18 Prozent der Stimmen bzw. fünf Mandaten. Die als Favoriten gesetzten Liberalen von Premier Mark Rutte landen demnach mit 15 Prozent und vier Mandaten dahinter, gefolgt von den Christdemo­kraten mit gut zwölf Prozent der Stimmen und ebenfalls vier Mandaten. Überraschu­ng Nummer zwei: Die rechtspopu­listische Revolte fand nicht statt. Die Freiheitsp­artei von Geert Wilders fiel demnach von drei auf ein EU-Mandat zurück, das neu gegründete Forum für Demokratie von Thierry Baudet schaffte drei Mandate.

Ungarn (21 Sitze)

In Ungarn sind die Aussichten relativ statisch. Die nationalpo­pulistisch­e Regierungs­partei Fidesz von Ministerpr­äsident Viktor Orban´ wird mit prognostiz­ierten 55 Prozent der abgegebene­n Stimmen respektive 14 Sitzen der überragend­e Wahlsieger sein. Mit den Medien des Landes unter mittelbare­r und unmittelba­rer Kontrolle konnte Orban´ ungestört seine Kampagne gegen vermeintli­che hegemonial­e Bestrebung­en der EU führen. Am nächsten dürften dem illiberale­n Regierungs­chef die rechtsextr­eme Jobbik-Partei, die sozialdemo­kratische Demokratis­che Koalition und die ungarische­n Sozialiste­n kommen, die jeweils mit zwei Mandaten rechnen dürfen.

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[ Reuters ] Wahllokal im Pub. Großbritan­nien wählte bereits am Donnerstag.

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