Aus Alt mach Neu oder: Die Wiener Richard-Strauss-Tradition
Von einem Gestalter wie Christian Thielemann lassen sich sogar die einschlägig als unschlagbar geltenden Philharmoniker allerhand sagen.
Wie man alte Vorlieben neu für sich entdecken kann.
Dass ein Dirigent – Pardon: Er nennt sich konsequent Kapellmeister – vom Schlage Christian Thielemanns nicht der Tradition verpflichtet sei, wird wohl niemand behaupten. Als Interpret stellte man ihn bald in eine Reihe – nicht mit Karajan, eher mit Furtwängler.
Das hat sich verstärkt durch die Tatsache, dass Thielemanns Domäne das deutsche Fach war und ist. Schon die Vorliebe für satt und dunkel timbrierte Orchesterklänge wies von Anbeginn der Karriere dieses Interpreten in diese Richtung.
Und doch: Hört man, wie sich etwa Thielmanns Deutung der „Frau ohne Schatten“entwickelt hat – ich durfte von seinem Debüt in der Deutschen Oper an dabei sein –, dann besticht der Zug zu immer fließenderen Tempi, zur Klärung jeglicher bis dato gern vernebelter, wenn auch schön klingender Passage. Deutlichkeit und Transparenz sind längst Thielemanns Markenzeichen geworden, ohne dass er den mitreißenden Fluss seiner Interpretationen eingebüßt hätte.
Die Orchester – vor allem jenes in Wien – sind ihm mittlerweile so attachiert, dass sie jeglichen Schwung, jegliche Expressivität auch bei den – von ihm nicht zuletzt der Hörbarkeit der Sänger wegen immer verlangten – dynamischen Reduktionen zu liefern gewillt sind.
Diese Quadratur des Kreises definiert Thielemanns absolute Ausnahmestellung. In diesem Sinn ist er ein moderner, vielleicht der modernste Dirigent von allen, ohne des großen Erbes in Sachen Klangkultur verlustig zu gehen.
Im Gegenteil, er bestärkt es noch deutlich. Indem er mit allen Schlampereien aufräumt, führt er die wienerische Strauss-Spielkultur im Bewusstsein ihrer Geschichte zu neuen Ufern. Also hinterfragt er auch die leidigen Kürzungspraktiken, die sich mit den Jahren eingeschlichen haben – das ergibt etwa im Fall der „Frau ohne Schatten“ein völlig neues Bild der Dramaturgievisionen des Autorenduos.
Abgesehen von Kleinigkeiten, etwa dass drei chinesische Gongs erklingen, wo drei vorgeschrieben sind, nicht nur zwei, sind mit der fulminanten Neueinstudierung wienerische Eigenheiten dahin, die angeblich oder nachweislich wirklich auf den Komponisten zurückgehen. Die reduzierte Orchesterfassung der Szene des „Hüters der Schwelle des Tempels“und die Verwendung des Vibrafons anstelle der Glasharmonika – ältere Schlagwerker der Philharmoniker wussten anlässlich der Wiederaufnahme des Werks unter Karl Böhm in den Siebzigerjahren noch zu berichten, wie fasziniert Strauss von dem ihm unbekannten Instrument gewesen sein und gemeint haben soll: Dieser Klang sei ihm beim Komponieren seiner Märchenoper vorgeschwebt . . .