Politologe Tim Bale über Boris Johnsons Agenda
Interview. Politikwissenschaftler Tim Bale über die persönliche Agenda des künftigen britischen Premierministers Boris Johnson.
Tim Bale, 53, ist Professor für Politikwissenschaften an der Queen Mary University of London und einer der führenden politischen Kommentatoren des Landes. Neben Arbeiten zur europäischen Politik und in vergleichender Politikwissenschaft ist er Experte für Geschichte und Ideologie der britischen Konservativen.
Die Presse: Boris Johnson wird oft als janusköpfige Persönlichkeit porträtiert. Welche Faktoren werden entscheiden, ob Großbritannien einen Doktor Jekyll oder einen Mister Hyde als Premierminister bekommt? Tim Bale: Das Einzige, was für Johnson zählen wird, nachdem er Premierminister geworden ist, ist, Premierminister zu bleiben. Wenn er der Meinung ist, er kann das durch Erzwingen eines No-Deal-Brexit erreichen, dann wird er das machen. Wenn er glaubt, er muss im letzten Moment aus einem No-Deal-Brexit aussteigen, dann wird er stattdessen diesen Weg wählen. Seine einzige Priorität wird es sein, dafür zu sorgen, dass er selbst und seine Partei an der Macht bleiben und die nächste Wahl gewinnen werden.
Johnson erlaubt es seinen Anhängern, in ihm zu sehen, was immer sie sehen wollen. Zugleich führt er Strategiegespräche mit dem rechtsextremen Ideologen Stephen Bannon. Wer ist der wahre Boris Johnson? Der wahre Johnson ist der Mann, der jedem alles versprechen wird, um das zu bekommen, was er will. Er beobachtet aber auch sehr genau, was auf der anderen Seite des Atlantiks unter US-Präsident Donald Trump geschieht, und versteht sehr genau die Stärke und Anziehungskraft des Populismus. Daher hat er auch keine Scheu zu lernen, wie er sich das zunutze machen kann, indem er mit Bannon konferiert.
Was sagt uns die Anziehungskraft Johnsons über die britischen Wähler? Verweigern sich die Wähler der Realität? Die britischen Wähler sind so desillusioniert von der Inkompetenz der politischen Klasse, dass sie versucht sind, alles auszuprobieren. Das ist ganz besonders der Fall, wenn sie denken, ein Politiker sei wenigstens authentisch. Und Johnson ist brillant darin, genau das vorzutäuschen.
Der neue ukrainische Präsident Selenskij war ein Komiker, US-Präsident Trump erfand sich als TV-Persönlichkeit, Johnson wurde durch eine Fernsehsatire landesweit bekannt. Warum wollen so viele Wähler von Selbstdarstellern regiert werden? Wahrscheinlich, weil in ihren Augen die Experten versagt haben.
Johnson macht stets viel Aufhebens um sein angebliches Naheverhältnis zu USPräsident Donald Trump. Wird er davon in irgendeiner Form Nutzen ziehen können? Johnson glaubt, dass er rasch einen Deal mit Trump bekommen kann. Das ist eine weitere Fantasievorstellung. Der US-Präsident ist nicht der Einzige, der über einen Handelsvertrag entscheidet, und die Idee, dass sie schnell zu so einer Vereinbarung kommen könnten, ist äußerst unglaubwürdig.
Was werden Johnsons erste Schritte im Amt sein? Er kann doch nicht wirklich glauben, dass er mit seinen Drohungen die EU zu Neuverhandlungen des BrexitDeals bewegen kann? Er wird vermutlich hoffen, dass seine harten Worte die EU-27 zu Änderungen bewegen. Falls das nicht der Fall ist und sobald darüber Klarheit besteht, wird er ziemlich schnell entscheiden müssen zwischen einer weiteren Brexit-Verlängerung oder einem Austritt ohne Deal. In dieser Situation wird er möglicherweise durch Neuwahlen versuchen, die parlamentarische Mehrheit so zu seinen Gunsten zu verändern, dass er diese Entscheidung gar nicht erst treffen muss.
Wie sollte und wie wird die Labour-Opposition auf die Machtübernahme Johnsons reagieren? Wenn er einen No-Deal-Kurs fährt, wird es für Labour einfacher: Selbst unter jenen Labour-Abgeordneten, die für die Umsetzung des Brexit sind, würde nur eine Handvoll einem radikalen Bruch zustimmen.
Der Kandidat Johnson hat sich als unzerstörbar erwiesen. Wird dasselbe auf den Premierminister Johnson zutreffen? Ich bezweifle es. Als Kandidat kann man – und Johnson hat das getan – versuchen, es jedem recht zu machen. Aber als Premier muss man schwierige Entscheidungen treffen. Einige werden wohl schon sehr bald sehr enttäuscht sein. (gar)