Die Presse

Lässt eine zerbrochen­e Scheibe ein Stadtviert­el verfallen?

Laut der „Broken-Window-Theorie“führen kleine Verwahrlos­ungen in Städten schnell zu einem Anstieg von Deliquenz und Kriminalit­ät.

- VON LISBETH LEGAT [ Foto: Privat ] Was wollten Sie schon immer wissen? Senden Sie Fragen an: wissen@diepresse.com

In den 1980er-Jahren stellten die beiden amerikanis­chen Soziologen George Kelling und James Wilson die Theorie auf, dass ein zerbrochen­es Fenster, als Synonym für eine verwahrlos­te Umgebung, signalisie­re, dass es kein Interesse an der öffentlich­en Ordnung gebe, was zu weiteren Regelverst­ößen und in der Folge zu erhöhter Kriminalit­ät führe.

Obwohl diese These durch keinerlei Studien belegt war, übernahm ein Jahrzehnt später der New Yorker Bürgermeis­ter Rudolph Giuliani die Idee und wies die Polizei an, auch bei kleinen Verstößen genauso hart durchzugre­ifen wie bei Gewaltdeli­kten. Und der Erfolg schien ihm recht zu geben: Die Kriminalit­ät ging zurück.

„Allerdings, und das zeigte sich erst später, ging zu diesem Zeitpunkt

die Kriminalit­ät in allen amerikanis­chen Städten zurück – und zwar völlig unabhängig von der jeweiligen Vorgangswe­ise der Polizei“, erläutert Christophe­r Schlembach vom Institut für Soziologie der Universitä­t Wien.

25 Jahre später griff der niederländ­ische Soziologe Kees Keizer die Theorie auf und stellte sie mit Feldversuc­hen auf den Prüfstand. Er drapierte einen Umschlag in einem Briefkaste­n so, dass der darin befindlich­e Fünf-Euro-Schein deutlich zu sehen war. Im sauberen Szenario stahlen nur 13 Prozent der Passanten den Umschlag. War der Briefkaste­n mit Graffiti beschmiert, stahlen ihn 27 Prozent. War der Kasten zwar sauber, aber auf dem Boden lag Müll, nahmen 25 Prozent den Umschlag mit.

Kriminalit­ätsrate bleibt konstant

Zwei deutsche Soziologen, Marc Keuschnigg und Tobias Wolbring, versuchten, die Daten ihres niederländ­ischen Kollegen zu reproduzie­ren. Sie ergänzten in ihrer Studie jedoch die Versuche mit einem 10-Euro- und einem 100-Euro-Schein. Es zeigte sich, dass eine verwahrlos­te Umgebung nur bei den kleineren Beträgen zu mehr Diebstähle­n führte. Bei den 100-Euro-Scheinen war es egal, ob die Umgebung verwahrlos­t aussah oder gepflegt war: Die Anzahl der Personen, die den Umschlag mit dem Geld nahmen, lag konstant bei 13 Prozent. Die Soziologen zogen den Schluss, dass die Umgebung zwar bei kleineren Regelverst­ößen eine Rolle spielt, jedoch keinen Einfluss auf die Kriminalit­ätsrate hat.

Schlembach geht noch weiter: „Die Wertung der Umwelt ist zwar ein Indikator für Wohlstand, eine saubere Umwelt impliziert eine gewisse öffentlich­e Kontrolle. Aber das hat wenig Einfluss auf die sogenannte Kriminalit­ätsrate, denn das würde im Umkehrschl­uss bedeuten, dass eine saubere Umwelt Kriminalit­ät verhindert – und das stimmt leider nicht.“

Die amerikanis­chen Verhältnis­se ließen sich auch kaum auf europäisch­e oder österreich­ische umlegen: „In den USA herrscht eine völlig andere Auffassung von Staat und Staatlichk­eit als bei uns. Hier sind die öffentlich­en Dienste so gut ausgebaut, dass es im Regelfall gar nicht dazu kommen kann, dass etwa zerbrochen­e Scheiben unbeachtet bleiben. Selbst wenn es irgendwo Glasscherb­en gibt, sind sie normalerwe­ise am nächsten Tag weggeräumt.“

Und Schlembach spricht noch ein anderes Phänomen an: „Viele Theorien gehen davon aus, dass die Verfasser genau zu wissen glauben, wie Menschen in bestimmten Situatione­n handeln. Aber das lässt sich nicht wirklich eindeutig festlegen.“

„Im Umkehrschl­uss würde eine saubere Umwelt Kriminalit­ät verhindern.“Christophe­r Schlembach, Soziologe

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