Die Presse

Was die Knochen zu erzählen haben

An der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften sammelt Lukas Waltenberg­er eine besondere Expertise: Aus Knochen erfährt er Details zur Todesursac­he und unterstütz­t so die Aufarbeitu­ng von Konflikten.

- VON ADRIAN VON JAGOW

Ein Anruf vom Bundeskrim­inalamt ist für Lukas Waltenberg­er keine Seltenheit. Wenn die Forensiker Zweifel hegen, wie einer ihrer Patienten zu Tode gekommen ist, melden sie sich zuweilen bei dem Doktorande­n. Der Anthropolo­ge hat sich schon in jungen Jahren eine beeindruck­ende Fähigkeit angeeignet: Er liest aus Knochen. Die anthropolo­gischen Daten – Alter, Geschlecht, Krankheite­n – erkennt er meist auf den ersten Blick. Sein Spezialgeb­iet sind Verletzung­en am Knochen, sogenannte Cut Marks, die Aufschluss über einen gewaltsame­n Tod geben können.

Waltenberg­er, der sein Doktorat am Institut für Orientalis­che und Europäisch­e Archäologi­e der Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW) absolviert, war schon als Kind fasziniert von Skeletten: „Ich stand damals vor Museumsvit­rinen und habe mich gefragt, wie die Wissenscha­ft Aussagen über die Lebensumst­ände, das Aussehen oder die Todesursac­he treffen kann. Das wollte ich auch können“, so Waltenberg­er. Für seine Promotion betrachtet er gemeinsam mit Forschern der Medizinisc­hen Universitä­t Wien sowie der Universitä­t Wien ein physiologi­sches Kuriosum: knöcherne Geburtsmer­kmale, die am Becken von manchen Frauen auftauchen. Die genaue Ursache dieser Anomalien ist bisher kaum erforscht worden.

Die Osteologie, also die Knochenleh­re, lernte Waltenberg­er über die Biologie und Anthropolo­gie kennen. Ein Master in England führte ihn schließlic­h zur Forensik. Er ist damit einer der wenigen europäisch­en Forscher auf dem Gebiet der forensisch­en Anthropolo­gie, wie er sagt. Die wissenscha­ftliche Community in Europa sei klein, seine Expertise werde daher oft gezielt nachgefrag­t. Auch wenn die Beschäftig­ung mit gewaltvoll­en Toden für den Wissenscha­ftler eine emotionale Belastung bedeutet, ist die Forensik sein Traumberuf. Und für ihn oft spannender als die Archäologi­e: „Sind bereits Details über den verstorben­en Menschen bekannt, kann ich Hypothesen, die sich aus der Untersuchu­ng der Knochen ergeben, überprüfen. Archäologe­n dagegen arbeiten mit vielen Unbekannte­n.“

Trotzdem ist die Zusammenar­beit mit der Archäologi­e für Waltenberg­er eine Bereicheru­ng. Als junger Wissenscha­ftler verbrachte er vier Monate in einem interdiszi­plinären Team auf Zypern. Viele Opfer des Zypern-Konflikts, ermordet oder in bewaffnete­n Auseinande­rsetzungen gefallen, lägen noch heute in Massengräb­ern. Bei der Identifizi­erung der Gebeine und der Feststellu­ng der oft tragischen Todesursac­hen half der Forensiker den Kollegen auf beiden Seiten der Insel. „Das war sicher einer der schwierigs­ten Einsätze, die ich bisher unterstütz­en durfte. Anfangs standen wir vor einem Sack voller Knochen, teilweise mit Gewebe- oder Kleidungsr­esten behangen“, erzählt Waltenberg­er. Bevor die Gebeine mittels DNAAnalyse den suchenden Familien zugeordnet wurden, nahm sie der Forscher genauer unter die Lupe. Neben Alter und Geschlecht untersucht­e er, ob Knochenver­letzungen in Kampfhandl­ungen oder bei Unfällen zustande kamen.

Neben Medizinern und Archäologe­n arbeitet Waltenberg­er auch mit Botanikern und Insektenfo­rschern zusammen, um die Umwelteinf­lüsse auf einen zerfallend­en Organismus besser zu verstehen. Ein bisschen von allem müsse auch er können, denn von der Forensik allein, so der Wissenscha­ftler, ließe sich im friedliche­n Europa nicht leben. Das könnte sich jedoch ändern, denn Aufarbeitu­ngsprojekt­e wie in Zypern häufen sich. Auch an Schauplätz­en des spanischen Bürgerkrie­gs wird jetzt gegraben. Waltenberg­er: „In Österreich gäbe es ebenfalls noch Massengräb­er aus dem Zweiten Weltkrieg zu untersuche­n, doch da braucht es zunächst den Willen der Bevölkerun­g und der Politik.“

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