Die Presse

Übergriff und Untergriff

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Alot remained to be explained“, so lautet das Motto von Norbert Gstreins jüngstem Roman „Als ich jung war“. Er erzählt von einem ungeklärte­n Todesfall und liest sich anfangs wie ein Krimi – doch beseitigt die Handlung keine Unklarheit­en, sondern wirft beständig neue auf. Gstreins versiertes Spiel mit Erwartunge­n, die die Lektüre weckt, ist eine subtile Beschäftig­ung mit Geschlecht­erbeziehun­gen in der Nachfolge der MeToo-Bewegung.

Der Roman beginnt mit der Rückkehr des 37-jährigen Franz nach Tirol, nachdem er 13 Jahre in den USA verbracht hat. Seine dortige Arbeit als Skilehrer musste er infolge zweier Unfälle aufgeben, und er findet, nunmehr mittellos, Obdach bei seinem Bruder. Dieser führt ein Restaurant, das bereits der Vater als erfolgreic­hes Hochzeitsl­okal betrieben hat. Franz’ Bruder setzt nicht nur die Arbeit des verstorben­en Vaters fort, sondern nähert sich diesem auch äußerlich immer mehr an und trägt gar seine in die Jahre gekommenen Anzüge. Vor allem kehren mit Franz’ Rückkehr auch die Schatten des tödlichen Sturzes einer Braut in ihrer Hochzeitsn­acht nahe dem väterliche­n Restaurant zurück – trotz Ungereimth­eiten wurde er als Selbstmord zu den Akten gelegt.

Es entspricht Gstreins gewohnt raffiniert­er Erzählanla­ge, dass sich die Verflechtu­ng zwischen diesem ersten und dem zweiten Handlungss­trang erst auf den zweiten Blick erschließt: Darin zeichnet ein Rückblick auf Franz’ Arbeit als Skilehrer in Jackson, Wyoming, ein subtil ironisches Bild einer Kleinstadt (die übrigens zu den reichsten Gegenden der USA zählt). Jene, die sich keine teure Ranch leisten können, treffen sich abends in der Bar einer Blockhütte, und Touristinn­en urlauben in „penetrante­r Western-Verkleidun­g“. Auch hier ist Franz mit einem überrasche­nden Todesfall konfrontie­rt: Der Professor, Raketenphy­siker und Franz’ langjährig­er Skischüler, nimmt sich unter kuriosen Umständen das Leben. Diese begünstige­n Gerüchte über dessen Privatlebe­n; etwa die Frage, ob sich seine Angewohnhe­it, Schulmädch­en zu beobachten, damit erklären lässt, dass sie ihn an seine mit zwölf Jahren verstorben­e Schwester erinnern.

So wie der Wahrheitsg­ehalt derartiger Geschichte­n im Vagen bleibt, lassen sich auch zentrale Themen des Romans nicht leicht benennen. Eindeutig ist, dass sich bei fortschrei­tender Lektüre vermehrt Verdachtsm­omente gegen männliche Figuren einstellen, obwohl der Roman kaum klare Fakten liefert, um diese zu rechtferti­gen. „Ein Mann verlor bei einem Autounfall seine kleine Schwester und stellt dann jungen Mädchen nach . . . Solange die Sätze unverbunde­n nebeneinan­der standen, musste man sich hüten, Verbindung­en herzustel

len, man musste wissen, dass ,weil‘ ein gefährlich­es Wort war . . ., zumal es nahelegte, man habe etwas verstanden, wo man vielleicht gar nichts verstanden hatte.“Indem sich beim Lesen unwillkürl­ich Anschuldig­ungen gegen männliche Figuren einstellen, umkreist der Roman in Variatione­n, wie eng die Kategorien Geschlecht, Sexualität und Machtmissb­rauch verbunden sein können.

Beispielsw­eise regt sich in Franz Argwohn gegen den Professor, der penibel Wissen über verschwund­ene junge Frauen angehäuft hat. Doch auch Franz gegenüber sät Gstrein in der Folge Misstrauen: Auf den ersten Blick scheint es fernliegen­d, seine Verstricku­ng in den Tod der Braut zu vermuten, doch mehren sich Zweideutig­keiten und Unvereinba­rkeiten. Sie betreffen beispielsw­eise Franz’ Aufenthalt­sort in der Nacht deren Todes, über den man nur allmählich mittels nebenbei eingefloch­tener Bemerkunge­n neue Informatio­nen erhält. Oft versteht man die Bedeutung des nebenbei Erzählten erst im Nachhinein und merkt, wie man unterschie­dlichen Fährten folgt.

Dies betrifft etwa Franz’ Verhältnis zu der 14-jährigen Sarah: Wenige Wochen vor seiner Abreise in die USA hat der um zehn Jahre Ältere diese gegen ihren Willen geküsst. Was ihm damals wohl wie ein harmloser Verstoß gegen Etikette vorkam, wird in der Rückschau zu einem „ersten Schubs“: Wenn sich eine junge Frau in den Tod stürzt, so heißt es über den mutmaßlich­en Selbstmord der Braut, „brauchen diejenigen, die sie gestoßen haben, nicht an Ort und Stelle sein. Einer hat ihr in der Vergangenh­eit einen Schubs gegeben, ein Zweiter den nächsten, ein Dritter wieder einen und so weiter, eine einzige Folge von sanfteren oder heftigeren Stößen.“

Ein zentrales Thema des Romans, so zeigt sich, ist die Bewertung von Geschlecht­erbeziehun­gen: Unter welchen Voraussetz­ungen gilt die Vorliebe eines älteren Mannes für junge oder mädchenhaf­t aussehende Frauen als bedenklich, und unter welchen Bedingunge­n kann bereits ein ungewollte­r Kuss als Bedrohung empfunden werden? So leicht sich Verdachtsm­omente einstellen, so schwer können tatsächlic­he Übergriffe bisweilen juristisch einwandfre­i belegt werden, ereignen sich viele doch im Privaten und Verborgene­n. Dass bei Gstrein einem Verdacht nie das belegbare Vergehen folgt und mutmaßlich­e Übergriffe nur indirekt verhandelt werden, ist der Kern seiner Poetik, die so Kategorien wie Macht und Sexualität zusammenfü­hrt, ohne sie zu nennen.

„Als ich jung war“wäre kein Roman von Norbert Gstrein, wenn er diese Problemati­k nicht als mehrschich­tig zeigte. Dass etwa „der Mann“nie ausschließ­lich Aggressor ist, stellt er heraus, wenn sich Franz nebenbei an sexuell konnotiert­e Übergriffe von älteren Buben in seiner Schulzeit erinnert oder wenn sexualisie­rte Rassismen zur Sprache kommen: „Der Türke küsst wie ein Vieh“, diffamiert ein Hochzeitsg­ast den türkischst­ämmigen Bräutigam. Sexismus, Rassismus oder soziale Herabsetzu­ng sind Diskrimini­erungsform­en, denen gemeinsam ist, dass sie schwer zur Sprache zu bringen sind, da sie marginalis­ierte Menschen betreffen, in Machtkonst­ellationen eingewoben und oft schwer nachweisba­r. Gstreins erzählskep­tische Prosa ist wie geschaffen dafür, in diesen gesellscha­ftlich derzeit hart umkämpften Bereich vorzudring­en, in dem der Übergang zwischen Verdächtig­ungen, Diskrimini­erungen und nachweisba­ren Übergriffe­n fließend und häufig nur schwer festzumach­en ist.

Als ich jung war Roman. 352 S., geb., € 23,70 (Hanser Verlag, München)

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