Die Presse

Warnung vor dem irren Vater

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Die Zeit heilt keine Wunden. Das Unbewusste ist zeitlos. Diese Entdeckung Freuds betont die Dringlichk­eit einer Entscheidu­ng, im Alter von 91 Jahren noch eine Autobiogra­fie zu publiziere­n. Ein letztes Wort, eine Spur von Beichte, ein Versuch, sich die Last von der Seele zu schreiben: einer Abrechnung gleich.

In dieser Stimmung liest sich das Buch von Lore Reich-Rubin, der jüngeren der zwei Töchter von Annie (1902 bis 1971) und Wilhelm Reich (1897 bis 1957), dem wohl berühmtest­en Schüler Freuds. Reich, Enfant terrible in der Geschichte der Psychoanal­yse, Kommunist, dessen Bücher von den Nazis und den amerikanis­chen Behörden verbrannt wurden; Begründer der Körperther­apie, die von der 68er-Bewegung unter dem Schlagwort der „freien Liebe“idealisier­t wurde; zuletzt war er der Entdeckung der Lebensener­gie fanatisch auf der Spur. Im Schatten dieses wissenscha­ftlichen Abenteurer­s hatte die Tochter ihr Leben einzuricht­en, und sie beschreibt in einer oft irritieren­den Radikalitä­t die erlebten Milieus und Stimmungen, in denen sie aufwuchs.

Die einzige Konstante in ihrem jungen Leben war die vier Jahre ältere Schwester Eva. Konstant in der Konkurrenz, da sie von Beginn explizit als Tochter des Vaters, Lore als Tochter der Mutter benannt wurde. Auf nichts sonst war Verlass. Die Tochter misstraute der Erwachsene­nwelt, die sich ihren hohen Idealen völlig verschrieb, war sie doch „Teil von etwas Großem“– der kom

Erinnerung­en an eine chaotische Welt Mein Leben als Tochter von Annie Reich munistisch­en und der psychoanal­ytischen Bewegung – und nicht mehr Teil der Lebenswelt des kleinen Mädchens.

Einsam in der Berliner „kommunisti­schen Kinderkomm­une“oder verlassen in der Wiener „Kinderpens­ion“mit integriert­er Therapie war sie zusammen mit anderen berühmten Kindern – etwa dem Sohn Sergej Eisenstein­s, dem Enkel Leo Trotzkis. Die kleine Lore hörte auf zu sprechen und wurde magersücht­ig. Die notwendige profession­elle Hilfe liest sich nicht nur heute irritieren­d, wenn die beste Freundin der Mutter als Therapeuti­n auftrat, die von Anna Freud supervidie­rt wurde, die wiederum die Analytiker­in der Mutter gewesen war, und das Mädchen von allen Seiten zu hören bekam, doch den Vater zu meiden da er verrückt ben Abtreibung­en schwer depressive­n Frau, und dem „geizigen“und cholerisch­en Wilhelm geschieden wurde. Erstaunlic­h, dass für das Mädchen der „Heil“brüllende Mann im Radio allmählich dem Vater ähnelte, der „sich auch in immer größer werdende Wut hineinstei­gerte – die Anspannung der Eskalation war die gleiche für mich“.

Die getrennte Flucht der Eltern führte in die USA. Die Mutter mit ihren Töchtern von Berlin über Prag nach New York, der Vater von Berlin über Kopenhagen, Oslo ebenfalls nach New York. Lore Reich hatte alle Mühe, Fuß zu fassen. Mutter Annie teilte inzwischen ihr Leben mit dem russischen Revolution­är Thomas Rubinstein, der sich weigerte, Englisch zu lernen und den Rest seines Lebens damit verbrachte, sein konfiszier­tes Manuskript über die Geschichte Russlands zu rekonstrui­eren, während Lore in der trotzkisti­schen Socialist Workers Party eine neue Heimat fand, die sich alsbald als Sekte entpuppen sollte. Im Widerstand folgte der Austritt mit ihrem Lebenspart­ner, dem Historiker Julius Rubin, den sie 1946 18-jährig heiratete und mit ihm endlich eine verlässlic­he Beziehung fand. Das Hochzeitsg­eschenk des Vaters: fünf seiner Bücher.

Die Lebensentw­ürfe der Töchter folgten der ursprüngli­chen Bestimmung: Eva Reich, Medizineri­n, entwickelt­e sich zur Assistenti­n des Vaters; zu „seiner Sklavin“– so die Schwester Lore, die dem Weg der Mutter folgte, ebenfalls Medizin studierte und Psychoanal­ytikerin in Pittsburgh wurde.

Lore Reich-Rubin wirft einen innerfamil­iären Blick auf ein Stück Wissenscha­ftsgeschic­hte, die sie uns durch 90-jährige Kinderauge­n nachvollzi­ehen lässt Ein auf

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