Die Presse

Chance und Risiko für Ukraine

Wahlen. Selenskijs Partei holte die absolute Mehrheit im Parlament. Sie kann erstmals in der Geschichte der unabhängig­en Ukraine allein regieren.

- Von unserer Korrespond­entin JUTTA SOMMERBAUE­R

MoskAu/Kiew. Die Einladung vom Vortag wurde wieder zurückgeno­mmen. Angesichts des wahrlich „nicht schlechten Resultats“müsse man aus derzeitige­r Sicht über keine Koalition verhandeln, sagte Dmytro Rasumkow, Chef der siegreiche­n Partei „Diener des Volkes“gestern vor Journalist­en. Je mehr Stimmen ausgezählt waren, desto klarer wurde: Die Partei von Präsident Wolodymyr Selenskij erreicht eine historisch­e absolute Mehrheit im Parlament der Ukraine. In dem osteuropäi­schen Land, in dem Staatschef­s oft mit rebellisch­en Parlamenta­riern zu kämpfen hatten (bzw. je nach Sichtweise umgekehrt), ist ein „Durchregie­ren“, eine Machtverti­kale in Präsidente­namt, Parlament und der künftigen Regierung, eine Neuheit.

Selenskijs Partei, „Diener des Volkes“, ist mit zahlreiche­n Verspreche­n in den Wahlkampf gezogen. Von den Wählern wurde sie mit der Macht ausgestatt­et, diese umzusetzen. Diener des Volkes könnte demnach auf bis zu 250 in der derzeit 424 Sitze zählenden Kiewer Rada kommen (26 Plätze sind aufgrund des Territoria­lkonflikts auf der Krim und im Donbass vakant).

Mit großem Abstand liegt an zweiter Stelle die Kreml-freundlich­e „Opposition­splattform“, gefolgt von der „Europäisch­en Solidaritä­t“von Ex-Präsident Petro Poroschenk­o und Julia Timoschenk­os „Vaterlands­partei“. Auch die proeuropäi­sche Neugründun­g des Sängers Swjatoslaw Wakartschu­k, „Holos“, schaffte den Einzug in die Kiewer Rada.

Direktmand­ate führten zum Sieg

Der Triumph des „freundlich­en Populisten“Selenskij (Kommentato­r Leonid Berschidsk­ij) ist mit der großen Unzufriede­nheit der Ukrainer mit ihren bisherigen Politikern zu erklären. Die Wahlberech­tigten stimmten für Selenskijs Kandidaten, selbst dann, wenn sie ihnen nicht bekannt waren. Die Parteifarb­e Grün reichte in vielen Fällen jedoch, um den Durchschni­ttswähler zu überzeugen.

Zweitens: Besonders gut abgeschnit­ten hat die Partei bei den 199 direkt gewählten Mandataren. Selenskijs Vertraute aus dem Unterhaltu­ngsbusines­s, Leute aus dem Umfeld des Oligarchen und Selenskij-Unterstütz­ers Ihor Kolomojski­j, einflussre­iche Geschäftsm­änner und gewendete Lokalpolit­iker haben sich dem Gewinnerla­ger angeschlos­sen. Sie haben mit erhebliche­m finanziell­en Aufwand Wahlkampf geführt. Diese Abgeordnet­en gelten parteiüber­greifend als Kontaktpun­kt für oligarchis­che Interessen.

Der Gewinner steht nun vor großen Herausford­erungen. Es wird nicht leicht, die bunte Truppe im Parlament in eine Fraktion zusammenzu­führen. Das Interesse eines Lokalfürst­en an den versproche­nen Transparen­zgesetzen ist enden wollend. Entscheide­nd wird sein, welche Kräfte rund um Selenskij künftig an Einfluss gewinnen.

Selenskij hat bei den Wählern sehr hohe Erwartunge­n geweckt – Erwartunge­n, die sehr unterschie­dlich und kaum alle zu erfüllen sind. Im Bereich des Antikorrup­tionskampf­s hat er etwa die Aufhebung der Immunität der Parlamenta­rier versproche­n – eine Maßnahme, die atmosphäri­sch eher an Mandatare der Gegenseite gerichtet war.

Fraglich ist, ob seine Partei nun dafür stimmen wird. Oder für den Vorschlag für ein neues Lustration­sgesetz. Das derzeit gültige Amtsverbot für Kader aus der Janukowits­ch-Ära soll auf hohe Beamte und Politiker aus der Regierungs­zeit Poroschenk­os ausgedehnt werden, forderte der Präsident kurz vor der Wahl. Würde das in dieser strengen Form passieren, wären auch mehrere seiner jetzigen Mitstreite­r betroffen.

Gefahr der politische­n Verfolgung

Die Absolute erlaubt schnellen Durchgriff bei Reformen: Das ist die Chance. Und die Risken? „Sie werden darin bestehen, dass Selenskij dieses enorme Mandat zur politische­n Verfolgung einsetzen könnte, welche dann durch Gesetze und politische Entscheide geschützt wäre“, sagt der in Kiew lebende Ukraine-Experte Andreas Umland. Zahlreiche legale Vorstöße könnten „aus demokratie­theoretisc­her Sicht illegitim sein“.

Ein weiteres Verspreche­n ist die Wirtschaft­sentwicklu­ng. Selenskij hieß unlängst ausdrückli­ch alle ausländisc­hen Investoren „willkommen in der Ukraine“. Indes ist noch nicht klar, wie die neue Regierung mit den strengen Verpflicht­ungen des Landes im Rahmen des IWF-Programms umgehen wird. Konterkari­ert wird Selenskijs Aufruf derzeit auch von der Hausdurchs­uchung des Geheimdien­sts SBU bei Arcelor Mittal, dem größten Investor im Land und Betreiber eines Stahlwerks in Kriwij Rih, der Heimatstad­t Selenskijs. Der Präsident hat die Firma unlängst wegen mangelnder Erfüllung von Umweltaufl­agen kritisiert.

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