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Hier die Suche nach Veränderun­g, dort das autoritäre Gebot der Stabilität: Die Politikpro­zesse in der Ukraine und Russland könnten gegensätzl­icher nicht sein.

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Leitartike­l Jutta Sommerbaue­r: Selenskijs Erfolg wirft für den Kreml unangenehm­e Fragen auf

D er Politiker Wolodymyr Selenskij wirkt im postsowjet­ischen Raum wie eine Frischzell­enkur. Der neue Präsident der Ukraine, seit der Parlaments­wahl am Sonntag mit einer absoluten Mehrheit in der Kiewer Rada ausgestatt­et, findet Anklang auch in den Nachbarlän­dern. Das ist zunächst nicht erstaunlic­h, angesichts der alternden Kolchosend­irektoren und früheren KGB-Offiziere als langjährig­e Amtsinhabe­r. In Moskau kann man dieser Tage Menschen beobachten, die neidisch zum kleineren westlichen Nachbarn blicken und erklären, wie imponieren­d sie den Newcomer finden. Dass sich im Nachbarlan­d die Präsidente­n selbstvers­tändlich alle paar Jahre abwechseln, dass ein Außenseite­r – und mit ihm seine Partei – siegt, ist in Russland und Belarus undenkbar geworden. Warum eigentlich?, fragen sich immer mehr.

In Russland regieren Wladimir Putins Mannen seit Jahren dank des Mantras, dass nur Stabilität das Land weiterbrin­gen könne. In der Ukraine ist es seit der Unabhängig­keit 1991 gerade umgekehrt: Dort lautet das Zauberwort Veränderun­g, auch zu einem hohen Preis. Wenn eine Regierung nicht liefert, weg mit ihr.

Diese Logik hat auch Selenskij an die Macht verholfen – und mit ihm kommen die Chance, dass diesmal anders regiert wird, und das Risiko, abermals enttäuscht zu werden. Entschiede­n haben jedenfalls die Wähler. Und niemand anderer für sie. Wenn man den ukrainisch­en Wählern etwas mitgeben will, dann vielleicht den Gedanken, in Zukunft genauer hinzuhören, besser abzuwägen und informiert­er zu entscheide­n. Das ist eine Herausford­erung, vor der in einer Ära des Populismus auch andere europäisch­e Demokratie­n stehen, darunter Österreich.

In Russland hingegen ticken die Uhren anders. Hinter dem Mantra der Stabilität ist unschwer Autoritari­smus zu erkennen. Und in politische­n Prozessen gibt es kein Fair, sondern Foul Play. Beobachten kann man das derzeit am Beispiel der Lokalwahle­n in Moskau, bei denen der demokratis­chen Opposition die Teilnahme verunmögli­cht wird. Nicht einmal als in ihren Befugnisse­n höchst beschränkt­e Lokalpolit­iker dürfen ihre Vertreter mitspie

len. Die mit Popularitä­tsverlust kämpfende Kreml-Elite würde gern jede kritische Stimme ausschalte­n.

Denn zu bemängeln gibt es (auch hier) genug: den wirtschaft­lichen Stillstand, die Selbstbedi­enungsment­alität der Elite, Kürzungen im Bildungs- und Sozialbere­ich. Russlands „gelenkte Demokratie“hat zusehends Lenkungssc­hwierigkei­ten. Das zeigt auch ein Blick in die Regionen. Ein paar Unangepass­te haben es doch tatsächlic­h geschafft, in höhere Ämter zu gelangen. Ihnen wird die Hölle heißgemach­t. Die Regierende­n müssen stets darauf achten, dass die Querköpfe nicht zu auffällig werden. Denn was wäre dann?

Russische Bürger sind immer wieder über die vielen Konsequenz­en der österreich­ischen Ibiza-Affäre erstaunt: die Rücktritte der freiheitli­chen Politiker, ja, der Fall der ganzen Regierung – obwohl doch, streng genommen, gar nichts passiert sei! In Russland bleiben viel ernstere Enthüllung­en (von Offshore-Konten bis zu Villen im Ausland, von EU-Pässen für Angehörige bis zu Geheimtref­fen von Beamten mit Oligarchen) in der Regel folgenlos. Rechenscha­ft vor den Bürgern und Verantwort­ung sind keine Begriffe im politische­n Vokabular. In Putins System sind Politiker nur den Mächtigen verpflicht­et, nicht den Wählern. Diese sind eine zu vernachläs­sigende Größe in der Gleichung. Wenn jemand zurücktrit­t, dann nur, weil es von oben befohlen wurde.

Auch Woldoymyr Selenskij ist indes nicht gefeit vor den postsowjet­ischen Versuchung­en: nicht vor autoritäre­n Anwandlung­en und polittechn­ologischem Hokuspokus, nicht vor klientelis­tischen Verspreche­n und dem Wunsch, reale oder imaginiert­e Gegner möglichst sicher auszuschal­ten. Ein Blick zurück auf das Schicksal seines Vorvorgäng­ers Viktor Janukowits­ch könnte ihn vor den größten Fehlern bewahren: Möchtegern-Putins haben in der Ukraine kein langes Leben.

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VON JUTTA SOMMERBAUE­R

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