Die Presse

Johnson, ein Mann Mann des Volkes?

Sind die Briten verrückt oder einfach undankbar? Gedanken zur Wahl des künftigen Tory-Parteivors­itzenden.

- VON MELANIE SULLY Melanie Sully (*1949) ist gebürtige Britin, Politologi­n und Direktorin des in Wien ansässigen Instituts für Go-Governance.

Volksvertr­eter sollten, wie schon der Name verrät, in irgendeine­r Form die Wähler vertreten. Ein reines Spiegelbil­d der Gesellscha­ft war das Parlament nie in dem Sinn, dass alle Gruppen getreu vertreten waren. Doch die Ansichten des Volks sollten unter gebührende­r Berücksich­tigung der Interessen der Minderheit­en vertreten sein. Es besteht allerdings bisweilen der Eindruck, dass Abgeordnet­e vieler Parlamente Interessen haben, die von jenen der „einfachen Leute“stark abweichen.

In Großbritan­nien fühlten sich die Wähler schon lang vor dem Brexit vom Parlament entfremdet – und seither hat sich die Lage verschlimm­ert. Das Parlament übertrug seine Souveränit­ät, um das Volk in einem Referendum über die EU-Mitgliedsc­haft entscheide­n zu lassen. Eigentlich war es die Aufgabe des Parlaments, das Ergebnis umzusetzen, und daran ist es kläglich gescheiter­t. Viele Menschen misstrauen dem Parlament, da es als Anti-Brexit-Institutio­n wahrgenomm­en wird, die entschloss­en ist, den „Willen des Volkes“zu vereiteln.

Die Kluft zwischen dem Establishm­ent und Brexit-Wählern war vor allem in Wales sehr deutlich. Einige Bezirke, die hohe Subvention­en aus der EU-Kasse erhalten, erzielten das höchste Brexit-Votum. Sind die Briten wirklich verrückt, wie Asterix uns glauben machen würde, oder einfach ausgesproc­hen undankbar? In Interviews beschwerte­n sich zahlreiche Wähler darüber, dass das Geld unbedacht für angebliche kosmetisch­e Projekte wie Straßenkun­st ausgegeben worden sei und ihre Wünsche ignoriert wurden. Die Arbeitslos­igkeit ist nach wie vor hoch, und die Schließung alter Industrien führte zur Verzweiflu­ng. Die Jungen haben gewiss von den Projekten profitiert, die die EU finanziert­e, doch ein tief verwurzelt­es Misstrauen gegenüber der Politik besteht fort.

Drei Jahre nach dem Referendum und zwei verstriche­ne Fristen später war die landesweit­e Enttäuschu­ng über das Nichtzusta­ndekommen des Brexit bei den Wahlen zum Europäisch­en Parlament allzu offenkundi­g. Die Brexit-Partei von Nigel Farage bot Hoffnung anstelle von Angst und behauptete, sie würde die Demokratie verteidige­n und das Vertrauen in die Politik wiederhers­tellen. Diejenigen, die den Verbleib in der EU befürworte­ten, waren gespalten und gezwungen, zumeist negative Parolen zu murmeln – gegen Brexit und gegen Farage.

Diejenigen, die für den Austritt aus der EU sind, sind überzeugt, dass die parlamenta­rische Demokratie sie nicht repräsenti­ert. Und die Verfechter einer selbst ernannten „Brexit-Demokratie“behaupten, dass sie das Volk im Gegensatz zum Parlament wirklich repräsenti­eren würden.

Boris Johnson, der im vergangene­n Jahr niemals von der Mehrheit der Abgeordnet­en der Conservati­ve Party unterstütz­t worden wäre, konnte aus diesem Klima seinen Nutzen ziehen. Er sieht sich selbst als moderner Perikles, ein charismati­scher Populist und Mann des Volkes, der „echte Demokratie“fördert.

Es ist durchaus möglich, dass das Parlament im Herbst versuchen wird, einen No Deal zu verhindern. Für den nächsten Premiermin­ister der Conservati­ve Party könnte dies sogar begrüßensw­ert sein. Er kann behaupten, dass das Parlament die Regierung und den „Willen des Volkes“sabotiere, und muss nicht gleich zugeben, bei der Umsetzung des Brexit gescheiter­t zu sein. Das Auseinande­rdividiere­n von Parlament und „wahrem Volk“aber ist ein problemati­sches Spiel, die Konsequenz­en haben kann für die Demokratie.

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