Was in Moskau auf dem Spiel steht
Protestwelle. Nach dem Ausschluss Oppositioneller von der Lokalwahl wächst in Moskau die Wut auf die Behörden. Russlands Polizei will den Widerstand im Keim ersticken. Heute entscheidet sich, ob das gelingt.
Moskau. Für heute, Samstag, rufen Anhänger der Opposition neuerlich zu einer Kundgebung für freie Wahlen in Moskau auf. Die Teilnehmer wollen ab 14 Uhr (Ortszeit) über den belebten Boulevardring spazieren. Sie müssen mit harschem Vorgehen der Sicherheitskräfte rechnen. Den von den Stadtbehörden vorgeschlagenen Ort für die Kundgebung haben die Aktivisten abgelehnt. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten zur Protestwelle in der russischen Hauptstadt.
1 Was ist der Anlass für die aktuelle Protestwelle in Moskau?
Der unmittelbare Anlass ist die Nichtzulassung von 16 Oppositionskandidaten zur Wahl des Moskauer Stadtparlaments am 8. September. Unterschiedliche Vertreter des liberalen Spektrums sind betroffen: einerseits Mitarbeiter des Fonds zur Bekämpfung
Wiedererwachen der Straßenproteste. Nach den Repressionen gegen die Antiregierungsproteste 2012 war es relativ still auf russischen Straßen. Die Annexion der Krim 2014 begünstigte eine allgemeine patriotische Stimmung, die interne Konfliktlagen in den Hintergrund treten ließ. Rund um die Präsidentenwahl 2018 und den Erlass der unbeliebten Pensionsreform im vergangenen Sommer kam es wieder zu Kundgebungen. In Moskau fordern Menschen derzeit faire Lokalwahlen. der Korruption von Alexej Nawalny (er selbst ist nicht angetreten), andererseits Ex-Dumaabgeordneter Dmitrij Gudkow und Politiker der „alten“Oppositionspartei Jabloko. Offiziell wurde das Antrittsverbot bei der Wahl damit argumentiert, dass die Politiker nicht genügend gültige Unterstützungsunterschriften eingereicht hätten. Die Betroffenen wehren sich kategorisch gegen den Vorwurf und sprechen von Betrug durch die verantwortlichen Behörden.
2 Könnte die Protestbewegung die Macht des Kreml ins Wanken bringen?
Das ist wenig wahrscheinlich. Die Moskauer Lokalbehörden haben sich durch ungeschicktes Politmanagement bei Teilen der Bevölkerung blamiert. Die Bewegung ist bisher auf die Hauptstadt begrenzt. Derzeit kann von keiner Massenbewegung gesprochen werden – auf die Straße gehen vor allem junge Menschen, aktive Bürger und Anhänger der liberalen Opposition. In anderen Regionen hat die bevorstehende Lokalwahl nicht zu politischen Verwerfungen geführt. Im Mittelpunkt der Forderungen stehen faire Wahlen; Rufe nach dem Rücktritt Wladimir Putins stehen nicht im Zentrum.
3 Warum gibt es immer wieder Streit um Genehmigungen von Demonstrationen in Russland?
Die russische Verfassung garantiert das Recht auf Versammlungsfreiheit. Allerdings ist laut Gesetz eine vorherige „Information“der Behörden notwendig. Über die Auslegung dieser Informationspflicht wird gestritten. In der Praxis bewilligen die Behörden Kundgebungen häufig unter Verweis auf die Sicherheit oder den Verkehrsfluss nicht oder schlagen weniger attraktive Alternativstandorte vor. Ein traditioneller Ort für „sanktionierte“Meetings in Moskau ist der Sacharow-Prospekt, eine abseits vom Zentrum gelegene Straße, in der die Versammlung den Hauptstadtverkehr nicht zum Erliegen bringen kann. Bei Verstößen während Demonstrationen oder der Teilnahme an „illegalen“Kundgebungen drohen seit 2012 zudem hohe Geldstrafen, die abschreckend wirken sollen. Um Akzente zu setzen, rufen Aktivisten auch zu von den Behörden nicht gestatteten Meetings, bei denen die Polizei wie am vergangenen Samstag (und wohl auch heute) hart durchgreift. Ohne vorherige Anmeldung gestattet ist hingegen eine „Mahnwache als Einzelperson“. Aus diesem Grund sieht man in Russland öfter einzelne Menschen mit Plakaten vor Behörden stehen.
4 Warum ist die Lokalpolitik zum Austragungsort des aktuellen Konflikts geworden?
Da sie eine der wenigen verbliebenen, politisch relativ durchlässigen Arenen ist. In den höheren Gremien ist durch gesetzliche „Vorkehrungen“für Vertreter, die nicht Teil der Machtelite sind, Mitbestimmung so gut wie unmöglich geworden. Bei den Bezirkswahlen in Moskau im Jahr 2017 war die Opposition überraschend erfolgreich. Sie hat lokalpolitisches Know-how erlangt. Nun wollte man den Erfolg wiederholen und in das Stadtparlament einziehen. Offenbar hatten auch die Wahlmanager in der Moskauer Stadtverwaltung nicht mit einer guten Organisation gerechnet. Der nachträgliche, halbherzig organisierte Ausschluss der Kandidaten hat die Gemüter erregt. Die geschobene Wahl ist ein Thema, in dem sich der bestehende Unmut vieler Städter bündelt.
5 Wie geht es nach der Ankündigung einer „harten Reaktion“durch die Behörden weiter?
Das Ziel der Behörden sind die schnelle Eindämmung der Proteste und das Verhindern weiterer Kundgebungen. Die Hälfte der Kandidaten sitzt derzeit in mehrtägiger Haft. Strafverfahren wegen des Aufrufs zu Massenunruhen (anlässlich der untersagten Kundgebung letzte Woche), die mehrere Jahre Gefängnis zur Folge haben können, sind in Vorbereitung. Viele Beobachter erinnert das Vorgehen an die kompromisslose Reaktion der Behörden auf die Demos auf dem BolotnajaPlatz 2012. Zugleich wurde ein Kandidat der altehrwürdigen Oppositionspartei Jabloko, Sergej Mitrochin, vor ein paar Tagen zur Wahl zugelassen. Mit diesem „Zuckerbrot und Peitsche“-Zugang soll die Bewegung offenbar geteilt werden. Bis zum Urnengang bleiben noch vier spannende Wochen.