„Weltuntergangsstimmung ist deplatziert“
Der Wiener Sozialwissenschaftler Peter Schweitzer hat 22 Jahre in Alaska gelebt und geforscht. Er interessiert sich für den unterschiedlichen Umgang von Gesellschaften in der (Sub-)Arktis mit dem Klimawandel.
Lediglich zwei bewohnte Siedlungen gibt es auf den norwegischen Inseln Spitzbergen. Mit 2144 Einwohnern ist Longyearbyen die größere davon und gleichzeitig einer der nördlichsten Orte der Erde. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei –6,7° C, die Vegetationszeit für Pflanzen bei einer Temperatur über
fünf Grad Celsius ist mit siebzig Tagen pro Jahr relativ kurz. Longyearbyen befindet sich auf Permafrostboden, der bis in eine Tiefe von 100 Metern gefroren ist. Als Bergarbeiterstadt gegründet war Longyearbyen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine von Männern dominierte Arbeitersiedlung.
Heute hat sich die Bevölkerungsstruktur geändert: Statt Kohleabbau definieren Wissenschaft und Tourismus das Beschäftigungsprofil der Bewohner. Für diese neuen Geschäftszweige ist der Klimawandel zentral. „Die wissenschaftliche Community ist hier, um das Phänomen zu erforschen, und die Touristen wollen – um es dramatisch auszudrücken – die Arktis sehen, bevor sie wegschmilzt“, sagt der Sozialwissenschaftler Peter Schweitzer vom Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Uni Wien. „Man begegnet dem Thema auf Schritt und Tritt.“
Er erforscht Menschen und Gesellschaften in Randgebieten. Erst vergangene Woche ist er aus dem hohen russischen Norden zurückgekehrt. Für das EU-Projekt „Nunataryuk“untersuchte er im sibirischen Lena-Delta in Jakutien (russische Republik Sacha) den Umgang der Menschen in arktischen Gebieten mit dem Auftauen des Permafrosts. „Zum einen unterscheiden sich die Auswirkungen des Klimawandels, aber es gibt auch unterschiedliche menschliche Herangehensweisen, die interessieren mich als Kulturund Sozialanthropologe“, erklärt Schweitzer. Für das „Horizon 2020“-Projekt, an dem Natur- und Sozialwissenschaftler aus elf Ländern beteiligt sind, war er nicht nur in Jakutien und Spitzbergen, sondern auch schon in Grönland. Weitere Fallstudien sind im Mackenzie-Delta im nördlichen Kanada geplant.
Über 20 Jahre, bis Anfang 2012, hat Schweitzer in Alaska gelebt und an der Universität von Fairbanks gearbeitet. Bereits Anfang der 1990er-Jahre war der Klimawandel dort Thema. „In Österreich war dieser Diskurs damals völlig absent, aber in Alaska wussten die Menschen auch in den kleinsten Dörfern Bescheid.“Das ist natürlich kein Zufall. Immerhin wird die Abnahme der Meereseisfläche in der Arktis bereits seit Jahrzehnten beobachtet. Allerdings ist ein Bewusstsein für Klimaveränderungen auch hier nicht in allen Regionen automatisch gegeben. In den russischen Teilen der Arktis, so Schweitzer, wussten die Menschen etwa bis vor zehn Jahren noch wenig mit dem Phänomen anzufangen: „Das hat mit der politischen Führung zu tun, die diesen Diskurs nach wie vor nicht sonderlich unterstützt.“
Ein großer Unterschied im Umgang mit dem Klimawandel zwischen arktischen und westlichen Gesellschaften liegt in dessen moralischer Bewertung. „In Grönland habe ich eine traditionelle Inuitgemeinde, wo der Fischfang im Vordergrund steht, besucht. Die Menschen dort waren nicht besonders vom Klimawandel berührt. Im Gegenteil, sie schauen eher auf dessen – für sie – gute Seiten für ihr Leben.“Vor allem Jugendliche sowie Jäger und Fischer strichen in Gesprächen mit dem österreichischen Forscher die positiven Aspekte der klimatischen Veränderungen für ihr Leben hervor: Es ist nicht mehr so kalt, das Meer friert später zu, man kann länger in den Herbst hinein fischen und mit den Booten ausfahren. Auch der sich verändernde Fischbestand – manchen Arten wird es zu warm und sie ziehen nach Norden – wird nicht negativ dramatisiert. „Das war für mich faszinierend. Die Menschen in Grönland sehen den Klimawandel ganz neutral: Die einen Fische gehen, dafür kommen andere Arten nach.“Für ihn sei genau diese unterschiedliche Wahrnehmung in verschiedenen Gegenden spannend. „Im nördlichen Kanada und in Alaska wird der Klimawandel eher politisch als antikoloniales Werkzeug genutzt“, erklärt Schweitzer. „Nach dem Motto, seit Kolumbus habt ihr uns – also der indigenen Bevölkerung, Inuit und First Nations – das Verderben, Krankheiten und jetzt den Klimawandel gebracht.“
Moralische Implikationen rund um den individuellen ökologischen Fußabdruck – etwa das schlechte Gewissen beim Fleischessen und Autofahren – seien ein sehr westliches Phänomen, meint Schweitzer. In vielen nördlichen Gebieten werde Strom für ganze Siedlungen durch Dieselgeneratoren erzeugt, die Menschen fahren mit achtzylindrigen Pick-ups und Booten mit veralteten ZweitaktMotoren. „Mir sind nie Überlegungen begegnet, aus Klimaschutzgründen ein Boot mit weniger PS anschaffen zu wollen, im Gegenteil.“Die indigene Bevölkerung, aber auch die weißen Siedler in den abgelegenen Siedlungsgebieten hätten diesbezüglich schlichtweg eine andere Haltung als wir. „Man lebt am Rand der Ökumene unter harschen Bedingungen, wo die meisten von uns nicht leben könnten, und muss schauen, wie
ist die Region um den Nordpol. Zu ihr gehören die nördlichen Ausläufer des amerikanischen, des asiatischen und des europäischen Kontinents, die nördliche Polkappe und das größtenteils zugefrorene Nordpolarmeer, dessen Eisdecke kontinuierlich schrumpft. Der hohe Norden ist dünn besiedelt – etwa vier Mio. Menschen leben hier. In den vergangenen Jahrzehnten erhöhte sich die Lufttemperatur in der Arktis doppelt so schnell wie die globale Durchschnittstemperatur. man hier überlebt.“Auch so etwas wie Flugscham kennen die Menschen der Arktis, mit denen er bislang zu tun hatte, nicht, meint Schweitzer. Immerhin sind Flugzeuge oft die einzige Verbindung zur Außenwelt.
Die Klimakrise und deren Folgen will der Anthropologe keinesfalls kleinreden: „Auf globaler Ebene passieren dramatische Veränderungen. Es wird Verlierer und Gewinner geben.“Der Klimawandel sei aber bestimmt nicht das Ende der Menschheit. „Immerhin ist die moderne Welt aus den Trümmern der Kleinen Eiszeit hervorgegangen, wie Historiker Philipp Blom deutlich gemacht hat.“Auch mit fehlgeleitetem Optimismus habe seine Sichtweise wenig zu tun, betont Schweitzer. „Man braucht sich nur die Geschichte unseres Planeten und unserer Spezies anschauen: Wenn notwendig, ist der Mensch in der Lage, mit Veränderungen umzugehen. Die derzeitige Weltuntergangsstimmung halte ich für deplatziert.“