Wenn aus Ludek Ludwig wird
Ein altes Foto, zwei Mädchen im geschäftigen Zentrum der slowenischen Stadt Maribor. Im Hintergrund marschiert ein SS-Mann. Er marschiert hinein in den Roman, denn das Erzählen setzt das Bild in Bewegung. Was für eine großartige Anfangsszene! Sonja, eines der beiden Mädchen, läuft dem SS-Sturmbannführer nach, sie kennt ihn aus der Kindheit, damals sprach er Slowenisch und wurde Ludek genannt, jetzt heißt er Ludwig und kann vielleicht ihren Freund retten, der als Partisan aufgegriffen wurde. Doch dafür muss sie seine Geliebte werden. Valentin weiß, dass Sonja ihn gerettet hat, er sieht sie noch einmal, und die beiden verabschieden sich wortlos für immer.
Im zweiten Kapitel kehrt Valentin nach Folter und Gefängnis wieder zurück zu den Partisanen. Doch diese haben sich völlig verändert: Aus enthusiastischen Truppen ist eine straff organisierte Armee mit eigenem Sicherheitsdienst geworden. Dem steht ein serbischer Kommunist vor, der foltern und töten lässt. Valentin überlebt, bleibt aber gezeichnet von dem, was er gesehen hat. Die Partisanen übernehmen die Macht und richten ein Konzentrationslager für Kollaborateure ein.
Das dritte Kapitel zeigt Sonja als Zwangsprostituierte in Ostpreußen. Die unerwartete Begegnung mit einem slowenischen Landsmann und mit ihrer Muttersprache öffnet ihr den Mund zum Erzählen. Für sie ist die Liebe tot wie die Poesie, und ihr Leben ist auch dann zu Ende, als sie im Herbst 1945 wieder „unversehrt“nach Maribor zurückkommt.
Das Schlusskapitel rückt noch einmal Ludek ins Bild, der aus dem KZ für Kollaborateure geflüchtet ist und sich ausgerechnet im Keller einer Krankenschwester versteckt, die für die Partisanen gearbeitet hat. Als sie nach einiger Zeit den SS-Mann in ihm entdeckt, schickt sie ihn weg, doch als sie ihn erschossen am Straßenrand sieht, weint die einsame Frau um den toten Geliebten. Danach ist nur noch fernes Klavierspiel zu hören, und „ein Zug rattert über die Drau“.
In Zeiten des Krieges hat die Liebe keine Chance. Und der oder die Einzelne auch nicht, denn selbst wenn sie Entscheidungen treffen, geraten sie gerade dadurch noch tiefer in unabsehbare und geradezu schicksalhafte Verstrickungen. „Der Krieg bezwingt alles, sogar diejenigen, die sich bekriegen.“Drago Jancarsˇ Roman „Wenn die Liebe ruht“trägt das nicht als These vor sich her, sondern lässt es psychologisch genau und überzeugend gezeichnete Personen erleben. Sein Erzähler, der über den Figuren steht und ihr Innenleben kennt, eröffnet durch Rückblenden – oft Erinnerungen oder Träume – und prägnante Vorausdeutungen
ein vielschichtiges Panorama. Er zeichnet es voller Detailbesessenheit, und selbst dann, wenn er vielleicht des Guten zu viel tut, folgt man ihm fasziniert. Die kalkulierte Verschränkung eines Kapitelendes mit dem Anfang des kommenden gerät nie zur leeren Demonstration erzähltechnischer Kunstfertigkeit, sondern schafft einen Sog, der einen beim Lesen kaum innehalten lässt. Unvergesslich bleiben die Konjunktivkaskaden, in denen jene Nacht geschildert wird, in der die Krankenschwester Katica überlegt, ob sie den noch unbekannten Flüchtling in ihrem Keller melden oder verstecken soll. An zentralen Momenten wird der Erzählfluss dynamisiert, und der Satzbau ändert sich.
Die flüssige Übersetzung von Daniela Kocmut gibt das wunderbar wieder. Dass sie an einigen Stellen ein sorgfältigeres Lektorat verdient hätte oder die kurzen Zitate slowenischer Volkslieder etwas hölzern geraten sind, fällt im Vergleich dazu nicht ins Gewicht. Jancarˇ destruiert jugoslawische Partisanenmythen und zeigt, wie die Kommunisten mit ihrer Volksfrontstrategie Partisanenbewegungen zusehends beherrscht und nach dem Krieg zur Basis ihrer Diktatur gemacht haben. Gestapo-Gefängnisse haben sie dabei nicht nur in Slowenien oder der DDR gern zur „Nachnutzung“übernommen. Das ignorieren viele im ehemaligen Westen bis heute. Darum ist der Roman „Wenn die Liebe ruht“von gesamteuropäischer Relevanz und Brisanz.
Drago Jancar,ˇ Sloweniens international bekanntester Autor, hat sich längst in die erste Reihe der großen europäischen Erzähler geschrieben. Er wurde 1948 in Maribor geboren, und man merkt dem Roman an, dass der Autor jede Straßenecke und jeden Hügel kennt. Aus seinen in viele Sprachen übersetzten Romanen wie „Der Galeerensträfling“, „Nordlicht“, „Luzifers Lächeln“, „Katharina, der Pfau und der Jesuit“oder zuletzt „Die Nacht, als ich sie sah“weiß man, dass er die Pranke für große Gemälde besitzt, weit ausholende Erzählströme zu strukturieren und komplex zu verknüpfen weiß und imstande ist, sich in unterschiedliche Zeiten, Länder und Atmosphären hineinzubegeben. Erneut hat Jancarˇ auf furiose Weise gezeigt, welche Funken ein Autor aus dem Material der Geschichte zu schlagen vermag, wenn er der Schwerkraft der Chronologie einen souveränen Umgang mit den Zeitebenen entgegensetzt und gängige Mythen an der Komplexität seiner Figuren und ihrer Biografien zerschellen lässt.
„Wenn die Liebe ruht“erzählt das nicht von einem sicheren archimedischen Punkt aus, sondern aus einer schmerzlich an den Ereignissen geschulten Skepsis. Und er ist ideologisch nicht zu vereinnahmen. Allein schon dass es der ehemalige SSler ist, der verkündet, im Konzentrationslager der an die Macht gekommenen Partisanen säßen in der Mehrzahl Unschuldige, zeigt, wie relativ die historische „Wahrheit“ist.
Lediglich im Buchtitel glimmt auch eine Hoffnung: Wenn die Liebe ruht, könnte sie ja auch wieder erwachen. Doch der Roman verzichtet auf derartige Silberstreifen am Horizont. Die wenigen glücklichen Augenblicke sind Vergangenheit, und so ist es vor allem der brennende Schmerz, der die Figuren zum Leuchten bringt. Ein Schmerz, der zu Empathie und Erkenntnis führt und das Buch zu einem großen Roman macht, der einem nicht aus dem Kopf geht.
Wenn die Liebe ruht Roman. Aus dem Slowenischen von Daniela Kocmut. 398 S., geb., € 25,70 (Zsolnay Verlag, Wien)
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