Die andere deutsche Teilung
30 Jahre Mauerfall. Wirtschaftlich haben sich Ost und West in den vergangenen Jahren einander angenähert. Aber politisch und demografisch driften sie auseinander. Und die Elite ist noch immer westdeutsch geprägt. Ein Vergleich.
Ost und West haben sich wirtschaftlich angenähert. Aber politisch und demografisch driften sie auseinander.
Berlin. Wer durch Brandenburg fährt und die AfD-Werbung sieht, wähnt sich am Vorabend eines Umsturzes. „Wir sind das Volk!“, schreit es von den Plakaten der AfD. Oder: „Der Osten steht auf!“
Die Rechtspopulisten setzen sich als Erben der friedlichen Revolution in Szene, als Bewegung gegen die da oben, gegen die angebliche „DDR 2.0“. Und sie tun das mit einigem Erfolg: In Brandenburg und Sachsen könnten die Rechtspopulisten am 1. September die Landtagswahlen gewinnen. Westdeutschland ist indes politisch ergrünt. 30 Jahre nach dem Mauerfall driften die beiden wiedervereinigten Landesteile politisch auseinander. Und wirtschaftlich? Bis zu zwei Billionen Euro wurden in den Aufbau Ost gepumpt. Es ist ein beispielloser Kraftakt. Bis heute. Er steht auch auf dem Lohnzettel: Erst in diesen Tagen wird das teilweise Ende des „Soli“vorbereitet, also jener Sonderabgabe auf die Einkommensteuer, die helfen sollte, im Osten „blühende Landschaften“zu finanzieren, wie sie Kanzler Helmut Kohl versprochen hatte. Wobei der „Soli“nie zweckgebunden war. Im Osten ging es jedenfalls voran. Die gleichen Verhältnisse wie im Westen gibt es aber nicht, gab es nie und wird es auch nie geben. Ein Vergleich.
Geld
Die Mangelwirtschaft der DDR ist lang abgeschüttelt. Das verfügbare Einkommen hat sich Expertenschätzungen zufolge seit der Wende verdoppelt. Es ist eine Erfolgsgeschichte, die sich auch in einer gestiegenen
Lebenszufriedenheit ausdrückt. Den Vergleich mit den ehemaligen sozialistischen Bruderländern gewinnt Ostdeutschland. Aber das ist für viele nicht der Maßstab.
Eine Zahl lastet wie Blei auf der Bilanz der Einheit: Die 60 deutschen Landkreise und Städte mit den niedrigsten Einkommen liegen noch immer zwischen Ostsee und Erzgebirge, also in der Ex-DDR. Im Osten wird im Mittel länger gearbeitet für weniger Lohn, auch wenn das Leben, je nach Region, billiger ist. Beim Haushaltsvermögen sind die „Ossis“abgehängt: Im Westen lag es mit 92.500 Euro im Schnitt mehr als viermal höher als im Osten (23.400 Euro). Der Ostdeutsche besitzt weniger Aktien, zu vererben gibt es oft nichts. Die Altlasten der DDR sozusagen. Dazu kommen Brüche in den Arbeitsbiografien nach der Wende, niedrigere Renten und Löhne.
Wirtschaft
Die düsteren Neunziger sind überwunden, als Abwicklung und Privatisierung der maroden DDR-Wirtschaft Millionen in die Arbeitslosigkeit stürzten. Heute gibt es boomende Städte wie Jena, Dresden und Leipzig, wo Hightech-Netzwerke, etwa das „Silicon Saxony,“für Furore sorgen und in die junge Kreative drängen. 13 Jahre in Folge ist die Arbeitslosigkeit gesunken auf nun 6,9 Prozent. Die Wirtschaft legte eine furiose Aufholjagd hin. Die Produktivität hat sich vervierfacht. Doch zuletzt geriet der Annäherungsprozess ins Stocken.
Das BIP verharrt bei 70 bis 75 Prozent des Niveaus im Westen. Die Unterschiede sind bekannt: Es gibt keinen im DAX gelisteten Konzern im Osten. Von den 500 größten Unternehmen waren 2016 nur 34 jenseits der alten deutsch-deutschen Grenze. Das ist auch daher ein Problem, weil in den Zentralen die Löhne höher sind, geforscht und entwickelt wird, Wertschöpfung und Sogwirkung entstehen. Die Wirtschaft im Osten ist kleinteiliger und weniger exportorientiert. Vor allem plagt die Region die Überalterung. Das Land mit den vielen AfD-Hochburgen braucht Fachkräftezuzug aus dem Ausland.
Demografie
Es ist eine Zeitenwende, die sich seit 2017 vollzieht: Erstmals wandern mehr Deutsche von West nach Ost als umgekehrt. Initiativen werben um Heimkehrer. Große Städte profitieren. Doch die große Abwanderungswelle und schwachen Geburtenjahrgänge nach der Wende gleicht das nicht aus. Es gibt im Osten zuweilen „blühende Landschaften“, also sanierte Ortskerne, aber kaum jemanden, der sie noch bewohnt. Dort fühlt man sich nicht nur abgehängt. Man ist es auch. Schon jetzt ist Ostdeutschlands Bevölkerung auf den Stand von 1905 geschrumpft, wie jüngst das ifo-Institut ermittelt hat, während sie sich im Westen, auch durch Migration, im selben Zeitraum verdoppelt hat.
Die Entvölkerung ganzer Landstriche hat „für eine unglaubliche Frustration gesorgt“, sagt Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) zur „Presse“. Es gibt Schätzungen, wonach der Osten bis 2030 20 Prozent seiner erwerbsfähigen Bevölkerung verlieren könnte. Reint Gropp vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle löste einen Aufschrei aus, als er davon abriet, abgehängte Regionen mit Fördermitteln zu retten. Weil man das gar nicht könne. „Einige ländliche Regionen werden wegen der Demografie und ausbleibender Migration sterben“, konstatiert Gropp.
Abgehängte Gegenden gibt es nicht nur in den neuen Bundesländern: 19 Problemregionen zählte das Institut der Deutschen Wirtschaft jüngst in einer Studie, sieben davon im Westen, zum Beispiel im Ruhrpott, der wie der Osten einen harten Strukturwandel durchlitten hat. Experten weisen schon länger daraufhin, dass sich neben dem West-Ost-Gefälle in Deutschland auch das Süd-Nord-Gefälle verstärkt.
Eliten
AfD-Rechtsaußen Björn Höcke trägt in seiner neuen Wende-Rhetorik dick auf: „Es fühlt sich schon wieder an wie in der DDR“, klagt der AfD-Landeschef im ostdeutschen Thüringen. Die Pointe: Höcke hat die Wende nicht erlebt. Er ist ein gebürtiger „Wessi“. Genauso wie sein linker Ministerpräsident Bodo Ramelow und wie viele führende Spitzenbeamte und Firmenchefs. 77 Prozent der Unternehmer in Ostdeutschland stammten 2017 aus dem Westen. Bundesweit liegt der „Ossi-Anteil“in Konzernzentralen einer Studie zufolge nur bei 1,6 Prozent, bei einem Bevölkerungsanteil von rund 15 Prozent.
Richter, Generäle, Hochschulrektoren: An den Schaltstellen der Republik finden sich kaum Ostdeutsche. Diese Ost-WestKluft bestärkt das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein. 42 Prozent empfinden das so.
Braucht es eine „Ossi-Quote“? Die Diskussion kam wieder auf. Aber eine Mehrheit winkt ab: Das ginge dann wohl doch zu weit, in Zeiten einer ostdeutschen Kanzlerin und 30 Jahre nach dem Mauerfall.