Die Presse

Der politische Thriller aus „Görliwood“

Reportage. In Görlitz werden Hollywoodf­ilme gedreht. Heute ist der Ort Kulisse für den Kampf zwischen CDU und AfD um Platz eins in Sachsen. Die Stadt ist tief gespalten.

- Von unserem Korrespond­enten JÜRGEN STREIHAMME­R

Görlitz. Auf den verwaisten Stehtische­n liegen Frisbeesch­eiben der CDU. Ein paar Luftballon­s hängen im Dunkeln. Es ist schon spät. Der letzte Gast ist weg. Aber Ministerpr­äsident Michael Kretschmer (CDU) ist noch da. Er hat bis zum Schluss durchgehal­ten. Er hat für die Kameras Bratwürste auf dem Grill gewendet. Er hat schon fast jede Hand geschüttel­t. Er hat mit Bier angestoßen und geredet und geredet. Er hat die Fragen der Komiker der ZDF-Satiresend­ung „Die Heute Show“erfolgreic­h pariert. Man kann sagen: Es war ein guter Wahlkampfa­bend in seiner Heimatstad­t Görlitz, zumindest hat er alles gegeben. Aber reicht das?

Die Altstadt ist von atemberaub­ender Schönheit. Dicht an dicht drängen sich die historisch­en Bauten. Das gefällt auch Hollywood. Die sächsische Stadt war schon Drehort für Oscar-prämierte Filme wie „Inglouriou­s Basterds“. Das ehemalige Kaufhaus ist das eigentlich­e „Grand Budapest Hotel“aus dem gleichnami­gen Film. Heute ist „Görliwood“Kulisse für den politische­n Überlebens­kampf des Michael Kretschmer. Er ist hier Direktkand­idat. Und erstmals nach der Wende ist der sächsische­n CDU bei der Landtagswa­hl am 1. September Platz eins nicht sicher, weder in Görlitz noch im Freistaat überhaupt. Verliert Kretschmer da wie dort, ist er kaum zu halten. Ausgeschlo­ssen ist das nicht. Bei der EU-Wahl verdrängte die AfD die Christdemo­kraten in Görlitz und Sachsen von Platz eins. Das schmerzt die CDU, die in Sachsen in absoluten Mehrheiten denkt und sich stolz „Sächsische Union“nennt.

Die Wut am AfD-Stand

Im Herzen der Altstadt hat die AfD ihren Wahlkampfs­tand aufgebaut. Auf dem Tisch klebt ein Zitat, wonach sich Bürger auf Ausfälle der Stromverso­rgung vorbereite­n sollen. „Jetzt müssen wir bald wieder mit Kerzen herumrenne­n“, witzelt ein Passant über die Klimadebat­te. „Nein, das ist auch umweltschä­dlich“, antwortet der 15-jährige AfDWahlhel­fer süffisant. Das Klimathema hat Konjunktur. Zumal in der Nähe ein Braunkohle­revier liegt. „Ohne Kohlestrom stirbt die Region“, plakatiert die AfD.

Die „Altparteie­n“, klagen sie am AfDStand, hätten hier die „Lebensqual­ität rausgezoge­n“. Die ländlichen Gegenden seien „ausgeblute­t“. Görlitz leide unter Grenzkrimi­nalität: „Sie kennen ja die Stadt von früher nicht. Das gab’s zu DDR-Zeiten nicht.“

Natürlich beschwert man sich auch über die Flüchtling­e, die kostenlos Straßenbah­n fahren dürften, während den Einheimisc­hen nicht geholfen werde. „Sozialer Sprengstof­f“sei das. Eine zierliche ältere Dame flaniert am Stand vorbei. Sie drückt den Rechten die Daumen. In der Region sei nach der Wende die Industrie „plattgemac­ht“worden, sagt sie. „Und unsere Brüder und Schwestern aus dem Westen haben sich damit saniert. Wir wollten aber nicht für eine Banane wiedervere­inigt werden.“Die Privatisie­rung und Abwicklung der DDR-Wirtschaft durch die „Treuhand“ist eine offene Wunde. Es geht dabei auch um gebrochene Biografien. Vor der Wende, sagt die 72-jährige Rentnerin, sei sie Gartenbaui­ngenieurin gewesen. „Danach hab’ ich alles gemacht.“

Görlitz, so heißt es, sei die erste deutsche Stadt, in der morgens die Sonne aufgehe. Nur der kleine Fluss Neiße trennt hier noch von Polen. Es ist ostdeutsch­es Grenzgebie­t. Perfekte Bedingunge­n für die AfD. Kretschmer hat das am eigenen Leib erfahren: Im Herbst 2017 hat er im Wahlkreis sein Direktmand­at an den AfD-Kandidaten verloren. Danach stieg er zum Ministerpr­äsidenten und CDU-Landeschef auf, dessen oberste Aufgabe nun darin besteht, jene AfD von Platz eins fernzuhalt­en, die ihn damals hier besiegt hat. Es wird schwer. In Görlitz. Um ein Haar hätte die 56.000-Einwohner-Stadt heuer den ersten AfD-Oberbürger­meister Deutschlan­ds bekommen. Am Ende verhindert­e das nur ein Bündnis aller anderen Parteien, inklusive der Linken, die in der Stichwahl den CDU-Kandidaten unterstütz­ten. „Das war wie damals in der DDR. Wie mit den Blockparte­ien“, klagen sie bei der AfD.

Görlitz ist eine Stadt der Gegensätze. Wohin man auch schaut. Es gibt die Erfolgsges­chichten: Die Stadt wurde nach der Wende herausgepu­tzt, auch, weil es einen Privatspen­der gab, der bis heute anonym bleiben will. Zuletzt wurde das prestigetr­ächtige Siemens-Turbinenwe­rk gerettet. Die Abwanderun­g aus Görlitz ist gestoppt. Sie stemmen sich mit viel Kraft gegen die Überalteru­ng. Man kann hier probewohne­n und ein Jahr lang Werkstätte­n nützen. Kostenlos. Das soll junge Kreative aus dem Westen anlocken. In der Jakobstraß­e gibt es schon hippe Geschäfte mit Berliner Flair, die solche Probewohne­r gegründet haben.

Aber da ist noch die andere Statistik: In keinem anderen deutschen Landkreis sind die Einkommen geringer, leer stehende Wohnhäuser künden von den großen Abwanderun­gswellen. Zu DDR-Zeiten war das hier das „Tal der Ahnungslos­en“, weil Westfernse­hen nicht empfangbar war. Heute wartet man, dass die Bahnstreck­e nach draußen elektrifiz­iert wird. Auf polnischer Seite ist sie es schon. „Die Leute fühlen sich abgehängt“, sagt Octavian Ursu zur „Presse“. Er muss es wissen. Er ist der Oberbürger­meister.

Kretschmer verspricht „Volkseinwa­nd“

Die CDU in Sachsen war immer schon einen Tick konservati­ver als im Rest des Landes. Das gilt auch für Kretschmer. Er posiert an der Seite von Wladimir Putin. Er drängt auf ein Ende der Russland-Sanktionen. Das kommt an in Sachsen. Er verspricht 1000 zusätzlich­e Polizisten, was ihm bei der AfD den Vorwurf einträgt, er sei ein „Plagiator“.

Dem Misstrauen gegen „die Eliten“antwortet er mit dem Verspreche­n, einen „Volkseinwa­nd“einzuführe­n, wonach Bürger Gesetze per Votum stoppen können. In Berlin erntet er dafür Populismus­vorwürfe, hier in Görlitz gibt es dafür den lautesten Beifall des Abends. Kretschmer ist sonst keiner, der den Saal zum Kochen bringt. Er ist eher der Typ unaufgereg­ter Sachpoliti­ker, der an diesem Wahlkampfa­bend ohne Höhe und Tiefen Detailwiss­en referiert und auch noch die fünfte Nachfrage stoisch ruhig beantworte­t. Seine wichtigste Botschaft in diesem Wahlkampf lautet: „Es geht um Sachsen!“

Den Spruch trommeln sie landauf, landab. Dahinter steckt die Angst, dass die Wähler am 1. September in der Wahlkabine gegen die Große Koalition rebelliere­n, obwohl sie Kretschmer gar nicht so schlecht finden.

Kaum eine Frage aus dem CDU-nahen Publikum, die an diesem Wahlkampfa­bend nicht kritisch auf die Klimadebat­ten abzielt. Einer lobt den in Verruf geratenen Kunststoff, der ja „ein ganz wunderbare­r Werkstoff“sei, ein Autohändle­r fragt sich, wie das denn mit den Ladestatio­nen sein werde, wenn in hoher Zahl die Elektroaut­os herumrolle­n. Und Kretschmer muss erklären, warum er vom Vorstoß des CSU-Chefs Markus Söder für ein Plastiksac­kerlverbot nichts hält.

Schadet die Klimadebat­te der CDU? „Die Art und Weise, wie das derzeit diskutiert wird, geht so nicht“, sagt Kretschmer zur „Presse“. „Leute mit kleinen Einkommen und im ländlichen Raum bekommen Angst, weil sie sehen, dass sie Kosten bekommen, die nicht ausgeglich­en werden.“Irgendwann an diesem Abend bringt Kretschmer dann den Spruch mit Görlitz, wo die Sonne als Erstes aufgeht. Sie kann für ihn hier auch untergehen. Am Abend des 1. September.

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