Der politische Thriller aus „Görliwood“
Reportage. In Görlitz werden Hollywoodfilme gedreht. Heute ist der Ort Kulisse für den Kampf zwischen CDU und AfD um Platz eins in Sachsen. Die Stadt ist tief gespalten.
Görlitz. Auf den verwaisten Stehtischen liegen Frisbeescheiben der CDU. Ein paar Luftballons hängen im Dunkeln. Es ist schon spät. Der letzte Gast ist weg. Aber Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) ist noch da. Er hat bis zum Schluss durchgehalten. Er hat für die Kameras Bratwürste auf dem Grill gewendet. Er hat schon fast jede Hand geschüttelt. Er hat mit Bier angestoßen und geredet und geredet. Er hat die Fragen der Komiker der ZDF-Satiresendung „Die Heute Show“erfolgreich pariert. Man kann sagen: Es war ein guter Wahlkampfabend in seiner Heimatstadt Görlitz, zumindest hat er alles gegeben. Aber reicht das?
Die Altstadt ist von atemberaubender Schönheit. Dicht an dicht drängen sich die historischen Bauten. Das gefällt auch Hollywood. Die sächsische Stadt war schon Drehort für Oscar-prämierte Filme wie „Inglourious Basterds“. Das ehemalige Kaufhaus ist das eigentliche „Grand Budapest Hotel“aus dem gleichnamigen Film. Heute ist „Görliwood“Kulisse für den politischen Überlebenskampf des Michael Kretschmer. Er ist hier Direktkandidat. Und erstmals nach der Wende ist der sächsischen CDU bei der Landtagswahl am 1. September Platz eins nicht sicher, weder in Görlitz noch im Freistaat überhaupt. Verliert Kretschmer da wie dort, ist er kaum zu halten. Ausgeschlossen ist das nicht. Bei der EU-Wahl verdrängte die AfD die Christdemokraten in Görlitz und Sachsen von Platz eins. Das schmerzt die CDU, die in Sachsen in absoluten Mehrheiten denkt und sich stolz „Sächsische Union“nennt.
Die Wut am AfD-Stand
Im Herzen der Altstadt hat die AfD ihren Wahlkampfstand aufgebaut. Auf dem Tisch klebt ein Zitat, wonach sich Bürger auf Ausfälle der Stromversorgung vorbereiten sollen. „Jetzt müssen wir bald wieder mit Kerzen herumrennen“, witzelt ein Passant über die Klimadebatte. „Nein, das ist auch umweltschädlich“, antwortet der 15-jährige AfDWahlhelfer süffisant. Das Klimathema hat Konjunktur. Zumal in der Nähe ein Braunkohlerevier liegt. „Ohne Kohlestrom stirbt die Region“, plakatiert die AfD.
Die „Altparteien“, klagen sie am AfDStand, hätten hier die „Lebensqualität rausgezogen“. Die ländlichen Gegenden seien „ausgeblutet“. Görlitz leide unter Grenzkriminalität: „Sie kennen ja die Stadt von früher nicht. Das gab’s zu DDR-Zeiten nicht.“
Natürlich beschwert man sich auch über die Flüchtlinge, die kostenlos Straßenbahn fahren dürften, während den Einheimischen nicht geholfen werde. „Sozialer Sprengstoff“sei das. Eine zierliche ältere Dame flaniert am Stand vorbei. Sie drückt den Rechten die Daumen. In der Region sei nach der Wende die Industrie „plattgemacht“worden, sagt sie. „Und unsere Brüder und Schwestern aus dem Westen haben sich damit saniert. Wir wollten aber nicht für eine Banane wiedervereinigt werden.“Die Privatisierung und Abwicklung der DDR-Wirtschaft durch die „Treuhand“ist eine offene Wunde. Es geht dabei auch um gebrochene Biografien. Vor der Wende, sagt die 72-jährige Rentnerin, sei sie Gartenbauingenieurin gewesen. „Danach hab’ ich alles gemacht.“
Görlitz, so heißt es, sei die erste deutsche Stadt, in der morgens die Sonne aufgehe. Nur der kleine Fluss Neiße trennt hier noch von Polen. Es ist ostdeutsches Grenzgebiet. Perfekte Bedingungen für die AfD. Kretschmer hat das am eigenen Leib erfahren: Im Herbst 2017 hat er im Wahlkreis sein Direktmandat an den AfD-Kandidaten verloren. Danach stieg er zum Ministerpräsidenten und CDU-Landeschef auf, dessen oberste Aufgabe nun darin besteht, jene AfD von Platz eins fernzuhalten, die ihn damals hier besiegt hat. Es wird schwer. In Görlitz. Um ein Haar hätte die 56.000-Einwohner-Stadt heuer den ersten AfD-Oberbürgermeister Deutschlands bekommen. Am Ende verhinderte das nur ein Bündnis aller anderen Parteien, inklusive der Linken, die in der Stichwahl den CDU-Kandidaten unterstützten. „Das war wie damals in der DDR. Wie mit den Blockparteien“, klagen sie bei der AfD.
Görlitz ist eine Stadt der Gegensätze. Wohin man auch schaut. Es gibt die Erfolgsgeschichten: Die Stadt wurde nach der Wende herausgeputzt, auch, weil es einen Privatspender gab, der bis heute anonym bleiben will. Zuletzt wurde das prestigeträchtige Siemens-Turbinenwerk gerettet. Die Abwanderung aus Görlitz ist gestoppt. Sie stemmen sich mit viel Kraft gegen die Überalterung. Man kann hier probewohnen und ein Jahr lang Werkstätten nützen. Kostenlos. Das soll junge Kreative aus dem Westen anlocken. In der Jakobstraße gibt es schon hippe Geschäfte mit Berliner Flair, die solche Probewohner gegründet haben.
Aber da ist noch die andere Statistik: In keinem anderen deutschen Landkreis sind die Einkommen geringer, leer stehende Wohnhäuser künden von den großen Abwanderungswellen. Zu DDR-Zeiten war das hier das „Tal der Ahnungslosen“, weil Westfernsehen nicht empfangbar war. Heute wartet man, dass die Bahnstrecke nach draußen elektrifiziert wird. Auf polnischer Seite ist sie es schon. „Die Leute fühlen sich abgehängt“, sagt Octavian Ursu zur „Presse“. Er muss es wissen. Er ist der Oberbürgermeister.
Kretschmer verspricht „Volkseinwand“
Die CDU in Sachsen war immer schon einen Tick konservativer als im Rest des Landes. Das gilt auch für Kretschmer. Er posiert an der Seite von Wladimir Putin. Er drängt auf ein Ende der Russland-Sanktionen. Das kommt an in Sachsen. Er verspricht 1000 zusätzliche Polizisten, was ihm bei der AfD den Vorwurf einträgt, er sei ein „Plagiator“.
Dem Misstrauen gegen „die Eliten“antwortet er mit dem Versprechen, einen „Volkseinwand“einzuführen, wonach Bürger Gesetze per Votum stoppen können. In Berlin erntet er dafür Populismusvorwürfe, hier in Görlitz gibt es dafür den lautesten Beifall des Abends. Kretschmer ist sonst keiner, der den Saal zum Kochen bringt. Er ist eher der Typ unaufgeregter Sachpolitiker, der an diesem Wahlkampfabend ohne Höhe und Tiefen Detailwissen referiert und auch noch die fünfte Nachfrage stoisch ruhig beantwortet. Seine wichtigste Botschaft in diesem Wahlkampf lautet: „Es geht um Sachsen!“
Den Spruch trommeln sie landauf, landab. Dahinter steckt die Angst, dass die Wähler am 1. September in der Wahlkabine gegen die Große Koalition rebellieren, obwohl sie Kretschmer gar nicht so schlecht finden.
Kaum eine Frage aus dem CDU-nahen Publikum, die an diesem Wahlkampfabend nicht kritisch auf die Klimadebatten abzielt. Einer lobt den in Verruf geratenen Kunststoff, der ja „ein ganz wunderbarer Werkstoff“sei, ein Autohändler fragt sich, wie das denn mit den Ladestationen sein werde, wenn in hoher Zahl die Elektroautos herumrollen. Und Kretschmer muss erklären, warum er vom Vorstoß des CSU-Chefs Markus Söder für ein Plastiksackerlverbot nichts hält.
Schadet die Klimadebatte der CDU? „Die Art und Weise, wie das derzeit diskutiert wird, geht so nicht“, sagt Kretschmer zur „Presse“. „Leute mit kleinen Einkommen und im ländlichen Raum bekommen Angst, weil sie sehen, dass sie Kosten bekommen, die nicht ausgeglichen werden.“Irgendwann an diesem Abend bringt Kretschmer dann den Spruch mit Görlitz, wo die Sonne als Erstes aufgeht. Sie kann für ihn hier auch untergehen. Am Abend des 1. September.