Alle Opfer, oder was? Warum der Trick im Wahlkampf wirkt
Viele Österreicher sehen sich selbst als Leidtragende von was auch immer. Auch mit der Übernahme von Verantwortung ist es nicht weit her. Die Politik nützt das aus.
Es ist schon reichlich spät, aber bis zur Wahl am 29. September ginge es sich noch aus. Die SPÖ sollte schleunigst ihre Spitzenkandidatin Pamela Rendi-Wagner in eine Opferrolle drängen. Die vergangenen Wochen und Monate haben gezeigt, dass die Opferkarte das politische Atout in diesem Wahlkampf ist.
Für Rendi-Wagner gäbe es da ein paar Vorschläge: Ihre Klage, in der Partei weniger ernst genommen zu werden als ein Mann, ist ausbaufähig. Nun gut, Frau als Opfer von Männern, die sich selbst den Job nicht antun wollten, wirkt nicht gerade zeitgemäß, wäre aber wirksam. Sie als Leidtragende der Disziplinlosigkeit von Funktionären von Burgenlands Hans Peter Doskozil abwärts zu präsentieren, hätte einen hohen Wahrheitsgehalt. Schließlich macht der Profiteur der Flüchtlingskrise von 2015 seit Monaten mit seinen Querschüssen und demonstrativem Fernbleiben von Parteiveranstaltungen einen auf Wolfgang Sobotka (ÖVP) vor der Umfärbung von Schwarz auf Türkis – nach dem Motto: Unsere tägliche Brüskierung gib uns heute!
Mit der Opferkarte würde RendiWagner zeigen, dass sie sich von den eigenen „Parteifreunden“nicht alles gefallen lässt. Das wäre in diesem bisher so inhaltsleeren Wahlkampf zumindest auch schon was.
Die Perfektion ihres Gegen- und ÖVP-Spitzenkandidaten Sebastian Kurz wird sie allerdings nicht mehr erreichen. Dieser hat den Wert des Atouts im Spiel um Wählerstimmen schon am 18. Mai erkannt, als er den Bruch mit dem Koalitionspartner FPÖ mit seiner Leidensfähigkeit begründete: Was er nicht alles zu erdulden und zu ertragen hatte.
Seither zieht er als Geschädigter durch die Lande: Von Tal Silberstein, den er immer erwähnen muss; von anonymen E-Mail-Verfassern, die seine Partei zwar ausfindig machen wollte, von denen man aber seither nichts mehr gehört hat; und überhaupt von allen, die seinen Weg auch nur mit einem Hauch von Skepsis sehen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, müsste man sich nicht
auch besonders um FPÖ-Klubobmann und Ex-Innenminister Herbert Kickl kümmern. Er geht auf Nummer sicher. Damit niemand bei seiner Amtsführung der letzten 17 Monate auf andere Gedanken kommen kann, gibt er auf Plakaten den Benachteiligten: „Sie sind gegen ihn, weil er Österreich schützen will.“Ist zwar nicht besonders originell, weil seit Jörg Haiders Tagen schon etwas abgegriffen, aber aus Gründen, die unten angeführt sind, noch immer vielversprechend.
Man kann es aber auch wie HeinzChristian Strache übertreiben. Sich als „Opfer“der eigenen Dummheit und Verantwortungslosigkeit (Strache über sich anlässlich des Rücktritts) darzustellen, ist besonders unverfroren. Sein Ablenkungsmanöver seither und das seiner Partei zeigen aber, dass sogar dies erfolgreich sein kann.
Warum also ist der Opfertrick in der aktuellen Politik gerade so wirksam? Er arbeitet mit Identifikation – kollektiv und individuell. Oder anders gesagt: Er hat für viele Wählerinnen und Wähler einen starken Wiedererkennungswert.
Sie sehen sich selbst und das Land gerne in einer Rolle darin. In gewisser Weise spiegeln sie sich. Das schafft Nähe zum Politiker. Aus dem gleichen Grund wird auch das Abschieben von Verantwortung in der Politik toleriert. Deshalb übernimmt Strache für das Gesagte im Video keine Verantwortung. Immer ist irgendjemand anderer schuld.
Beide „Tricks“sind stark in der Gesellschaft verankert: Man fühlt sich ungerecht behandelt – von wem auch immer – und schiebt die Verantwortung an andere ab. Ob ein Krankenhaus die Übernahme eines Notfalls vor seiner Türe verweigert und auf die nächste Rettung verweist; ob der Bürger in der Bürokratie im Kreis geschickt wird; ob Fehler in der Politik seit neuestem auf Mitarbeiter abgeschoben werden – das ist gängige Praxis.
Eine erfolgreiche politische Methode spricht das an, „was in den Wählern drin“ist. Das sollte man bedenken!