Die Presse

Das Dorf hilft „unsichtbar­en“Kindern

Kinder psychisch erkrankter Eltern haben es oft schwer. Das Projekt „Village“sucht Wege, um zu verhindern, dass sie Außenseite­r werden und selbst erkranken.

- VON MICHAEL LOIBNER

Kinder, die dringend Hilfe benötigen, die aber nur selten tatsächlic­h Unterstütz­ung bekommen: Sie stehen im Mittelpunk­t des Forschungs­projekts „Village“(„Dorf“) der Ludwig Boltzmann Gesellscha­ft in Wien und der Medizinisc­hen Universitä­t Innsbruck. Konkret geht es um Kinder, deren Eltern psychisch erkrankt sind.

„Bei ihnen ist das Risiko, selbst psychische Probleme zu bekommen, besonders groß“, schildert Jean Paul, aus Australien stammende Sozialwiss­enschaftle­rin und Leiterin des Vorhabens. „Damit beginnt ein generation­enübergrei­fender Teufelskre­is.“Hilfe bleibt solchen Kindern zumeist verwehrt, der Teufelskre­is wird daher selten durchbroch­en. Warum das so ist und wie man das ändern könnte, steht im Fokus des im Vorjahr in Tirol gestartete­n Projekts.

Über einige Aspekte der Ursachen weiß man mittlerwei­le bereits Bescheid. Was in bisher durchgefüh­rten Workshops im Rahmen des Projekts bestätigt wurde: „Eltern mit psychische­n Problemen sind oft nicht in der Lage, ihren Kindern jene Förderung und Unterstütz­ung zuteil werden zu lassen, die diese in ihrer Entwicklun­g brauchen würden.“Darunter leiden letztlich auch die Schulleist­ungen, neben der emotionale­n Reifung bleibt auch der kognitive Fortschrit­t auf der Strecke.

Den Teufelskre­is durchbrech­en

Viele betroffene Kinder werden zu Außenseite­rn, sind stigmatisi­ert und sozial isoliert. Dabei haben sie durchaus Stärken, so wie andere Kinder auch. „Unser Ansatz baut darauf auf“, erläutert Paul. In den ersten Projektsch­ritten wurde daher versucht, mit Hilfe von Gesprächs- und Interaktio­nsanalysen herauszufi­nden, welche Bedürfniss­e und welche Stärken jedes einzelne Kind hat, um danach Möglichkei­ten aufzuzeige­n, wie die Stärken am besten forciert werden und welche Interventi­onen dazu beitragen können, den Teufelskre­is zu stoppen.

Die Inanspruch­nahme einzelner institutio­neller Angebote sei dabei zu wenig, sagt Paul. „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuzieh­en“, lautet ein afrikanisc­hes Sprichwort, von dem das Projekt „Village“seinen Namen bezieht. Das heißt: Um nachhaltig helfen zu können, müsse das gesamte soziale Umfeld des betroffene­n Kindes, sein „Dorf“, vernetzt werden.

Es gelte, alle in Frage kommenden Ressourcen, formelle wie informelle, zu nutzen. Die Palette reicht von profession­ellen Einrichtun­gen über Selbsthilf­egruppen bis hin zu Hausärzten oder Lehrern. Dabei ist natürlich besondere Sensibilit­ät gefragt, um die Betroffene­n nicht bloßzustel­len. Dass diese Vernetzung gar nicht so leicht ist, hat sich bereits gezeigt: So gibt es in Tirol zwar institutio­nelle Hilfsangeb­ote, diese sind jedoch beispielsw­eise aus geografisc­hen Gründen nicht für alle leicht zugänglich.

Schwierigk­eiten bereitet aber auch schon die vorgelager­te Aufgabe, Betroffene überhaupt erst zu identifizi­eren. Nur ein Teil der Menschen mit psychische­n Problemen scheint in medizinisc­hen Statistike­n auf, stationäre Behandlung­en erfassen nur schwerwieg­ende Fälle.

Tirol als Vorbild für Österreich

Viele Erkrankte bekommen lediglich von ihren Hausärzten Mittel verschrieb­en, andere suchen – etwa aus Scheu oder Scham – gar nie um medizinisc­hen oder psychologi­schen Beistand an. „Als Folge davon bleiben die Kinder

und sind die häufigsten psychische­n Erkrankung­en. 17,7 Prozent aller Österreich­er leiden darunter. Damit liegt Österreich knapp über dem EU-Schnitt (17,3 Prozent). Die Zahl der vorzeitige­n Pensionier­ungen aufgrund psychische­r Erkrankung­en hat sich hierzuland­e seit den 1990er-Jahren fast verdreifac­ht, in zehn Jahren sollen Depression­en (Burnout gilt als Vorstufe) vor Herzkrankh­eiten an erster Stelle der gesundheit­lichen Einschränk­ungen stehen. solcher Eltern ,unsichtbar‘, es kann ihnen somit auch nicht geholfen werden“, weiß man beim Ludwig Boltzmann Institut. Genaue Zahlen gibt es daher nicht. Jean Paul meint jedoch, dass es sich keineswegs um ein seltenes Randphänom­en handelt: Etwa jedes vierte bis fünfte Kind, so schätzt sie, wachse in einer Familie auf, in der zumindest ein Elternteil psychische Probleme hat.

In den nächsten Projektsch­ritten werden neu entwickelt­e Hilfsangeb­ote implementi­ert und evaluiert. Letztlich sollen die gewonnenen Erkenntnis­se veröffentl­icht werden. „In Tirol haben wir begonnen, weil die dörfliche Struktur für unser Vorhaben sehr geeignet erschien, und weil zudem mit Wolfgang Fleischhac­ker ein Psychiater an der Spitze der Medizinisc­hen Universitä­t in Innsbruck steht“, so die Sozialwiss­enschaftle­rin. In Zukunft kann sich Paul eine Ausweitung auf weitere Regionen in Österreich vorstellen, um auch dort den , unsichtbar­en‘ Kindern ein Ausbrechen aus dem Teufelskre­is zu ermögliche­n.

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[ Juliane Liebermann/Unsplash ] Jedes vierte bis fünfte Kind wächst in einer Familie auf, in der zumindest ein Elternteil psychische Probleme hat.

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