Die Schuld und die Angst
Vor 400 Jahren brachte ein niederländisches Kriegsschiff die ersten Schwarzafrikaner aus Angola in Virginia an Land. Das Zeitalter der Sklaverei begann in Nordamerika – es mündete in den Sezessionskrieg. Und in einen Rassismus, der mittlerweile – wieder –
Im 17. Jahrhundert brachten gesunde Sklaven auf dem größten Sklavenmarkt Virginias in Richmond etwa 800 Dollar Gewinn, was heute 20.000 Euro entsprechen würde. Sie waren rechtlos und der Willkür der Sklavenhalter ausgeliefert, die auf riesigen Plantagen Tabak, Reis und Baumwolle anbauten.
Am 20. August 1619, also vor exakt 400 Jahren, brachte ein niederländisches Kriegsschiff die ersten 20 schwarzen Sklaven aus Angola in Virginia an Land. Zwölf Jahre zuvor war die erste europäische Kolonie in Jamestown gegründet worden. Nun begann die Geschichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten, die 1776 aus den europäischen Kolonien in Nordamerika hervorgingen. Heute sind von den rund 328 Millionen Bürgern der USA etwa 13 Prozent, also 43 Millionen, Afroamerikaner.
Der dritte Präsident der USA, Thomas Jefferson, war ein überzeugter Sklavenhalter, der auf seiner Tabakfarm in Richmond über 135 Schwarze herrschte. Von Jefferson, dem Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, stammt dieses für die einst gesetzlich verankerte Südstaaten-Ideologie typische rassistische Zitat: „Die Schwarzen sind den Weißen unterlegen an körperlichem und geistigem Talent. Dieser missliche Unterschied ist ein mächtiger Hinderungsgrund für die Gleichberechtigung dieser Leute.“Erst 1807 wurde der Import von Schwarzafrikanern vom US-Kongress verboten, nicht aber der Handel mit Sklaven. Abraham Lincoln, der 16. Präsident der USA, führte einen fünfjährigen Kampf für die Sklavenbefreiung, an dem sich der Amerikanische Bürgerkrieg entzündete. Bis zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten, dem Afroamerikaner Barack Obama, der zwei Amtsperioden von 2009 bis 2017 regierte, war es noch ein weiter Weg.
Der Sezessionskrieg 1861 hatte mit einer Niederlage der Südstaaten geendet. Die Befreiung aller Sklaven erfolgte 1865. Aber der Rassismus bestand weiter. Afroamerikaner wurden ausgebeutet, unterdrückt, und in den Südstaaten war die Lynchjustiz an der Tagesordnung, wovon das berührende Lied „Strange Fruit“, das die Jazzsängerin Billie Holiday 1939 im New Yorker Cafe´ Society bekannt gemacht hat, erzählt. Die in dem Song angesprochene strange fruit ist der Körper eines Schwarzen, der an einem Baum hängt. Zwischen 1889 und 1940 wurden laut einer konservativen Schätzung mindestens 3833 Afroamerikaner gelyncht. 90 Prozent dieser Morde geschahen in den Südstaaten. Das vorrangige Ziel des 1865 als rassistischer weißer Geheimbund gegründeten Ku-Klux-Klan war die Unterdrückung Schwarzer.
Civil Rights Act im Jahr 1964
Bis in die 1960er-Jahre bestand in den USA die Segregation, die Rassentrennung. In den sogenannten Jim-Crow-Gesetzen wurde die Trennung zwischen Weißen und Afroamerikanern festgelegt. In den US-Streitkräften wurde die Rassentrennung schon 1948 durch Präsident Harry S. Truman aufgehoben, in allen zivilen Bereichen 1964 durch den von Präsident Lyndon B. Johnson initiierten Civil Rights Act. Eine besondere Rolle bei der Durchsetzung der rechtlichen Gleichstellung der Afroamerikaner kam der modernen Bürgerrechtsbewegung zu, die eng mit dem Namen des Pastors Dr. Martin Luther King Jr. verbunden ist.
Die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung manifestierten sich in einem raschen Anwachsen einer aus Sportlern, Künstlern und Politikern bestehenden schwarzen Mittelschicht, während sich gleichzeitig die Lebensbedingungen der Mehrheit der Afroamerikaner wieder verschlechterten. Ihre Realeinkommen gingen seit den 1970er-Jahren zurück, und die Schwarzen fühlen sich bis heute durch eine verschärfte Strafgesetzgebung, die weniger auf Resozialisierung als auf Abschreckung setzt, benachteiligt. Die Black-Lives-Matter-Bewegung machte die brutalen Übergriffe der Polizei zu einem nationalen Thema, und der schwarze Justizminister der Obama-Administration, Eric Holder, schickte Untersuchungskommissionen zu Polizeibehörden im ganzen Land.
Barack Obama selbst, der zweimal eine Präsidentenwahl gewann, wurde schon als Kandidat mit offenem Rassismus konfrontiert. Der rechtsextreme Radiomoderator Rush Limbaugh nannte ihn „Barack, den Zauberneger“, und Verleumder verbreiteten via E-Mails, die künftige First Lady, Michelle Obama, habe an der Princeton University eine rassistische, gegen Weiße gerichtete Abschlussarbeit verfasst. Durch Obamas Einzug in das Weiße Haus bekamen die weißen Nationalisten erst recht Auftrieb. Während Obamas zweiter Amtsperiode behaupteten weiße Rassisten, Obamas Geburtsurkunde sei gefälscht, der Präsident sei nicht legitim, weil nicht in den USA geboren. Und überdies wäre er Moslem. „Birtherism“, stark angeheizt durch den RealityTV-Star und Immobilienmogul Donald Trump, erfasste die Basis der Republikaner. Laut einer Umfrage hielten 2015 54 Prozent der republikanischen Parteigänger Obama für einen Moslem, und nur 29 Prozent von ihnen glaubten, dass er in den USA geboren wurde. Die giftige Saat war aufgegangen.
Obama wurde also zweimal von einer Mehrheit der amerikanischen Wähler zum Präsidenten erkoren, während sich gleichzeitig in den USA offener Rassismus breitmachte, der allerdings latent bei bestimmten Gruppen immer vorhanden war.
Die Wahl von Donald Trump als Nachfolger Barack Obamas, der acht Jahre lang ohne Skandale die USA regiert hatte und in weiten Teilen der westlichen Welt bis heute große Popularität genießt, war ein populistisches Statement gegen das Establishment, die Washingtoner Eliten und – so paradox das klingen mag – die Wall Street. Trump, der um drei Millionen weniger Stimmen als seine demokratische Gegenkandidatin, Hillary Clinton, aber die Mehrheit in einigen wenigen entscheidenden Swing States bekommen hatte, gerierte sich als Vertreter des kleinen Mannes, der von der Globalisierung benachteiligten weißen Arbeiterschaft in Mittelamerika. Unterschwellig war in den Wahlkampfauftritten immer Rassismus mit im Spiel. Anhänger der White Supremacists und der Alt-Right-Bewegung standen von Anfang an hinter Trump. Mittelpunkt der Alt-Right-Ideologie ist die rassistische Annahme, dass die „Identität der weißen Bevölkerung“von der multikulturellen Einwanderungsgesellschaft der USA und einer „politischen Korrektheit“bedroht sei und gegen Gesetze zur Förderung der sozialen Gerechtigkeit verteidigt werden müsse. Kritiker von Alt-Right meinen, dieser Begriff sei ein Euphemismus, der rechtsextremes Gedankengut verschleiere.
Bei Demonstrationen unter dem Motto „Unite the Right“(„Vereinigt die Rechte“) kam es ausgerechnet im Bundesstaat Virginia, wo einst die ersten schwarzen Sklaven an Land gegangen waren im August 2017 zu Klan, Neonazis mit antisemitischen Sprechchören, Neokonföderierte, White Nationalists und White Supremacists. James Alex Fields Jr. raste mit seinem Auto vorsätzlich in eine Gruppe von Gegendemonstranten. Dabei wurde die 32-jährige Heather Heyer getötet. Präsident Donald Trumps Reaktion, auf beiden Seiten habe es „gute Leute“gegeben, brachte ihm einen Sturm der Kritik ein, aber auch Anerkennung von Führern der Rechtsradikalen. Die Extremisten hatten bei der Demonstration „Heil Trump!“gerufen, T-Shirts mit der Aufschrift „Make America Great Again“, dem Wahlkampfslogan des Präsidenten, getragen und den Hitlergruß gezeigt. Übrigens waren damals auch Anhänger von Identity Europe, einem Ableger der in Österreich sattsam bekannten Identitären Bewegung, dabei. Die europäischen Rechts-außen-Gruppierungen sind ja allesamt Trump-Sympathisanten.
Aber die Welt dreht sich weiter, und zwar sehr rasch. 1960 waren 75 Prozent der Amerikaner Weiße, heute sind es gerade noch knapp 60 Prozent. Ab 2044 dürften die derzeit aus Latinos Afroamerikanern und stellen. Wie sehr die Geschichte der Afroamerikaner noch immer ein heißes Politikum ist, zeigt die im anlaufenden Präsidentschaftswahlkampf wieder aufgeflammte Diskussion darüber, ob die Nachfahren der Sklaven eine finanzielle Entschädigung erhalten sollen, wie das einige demokratische Politiker fordern. Und es hat Jahrzehnte gedauert, bis das Projekt eines Museums für afroamerikanische Geschichte und Kultur realisiert werden konnte.
2016 eröffnete Präsident Obama diesen Monumentalbau der Architekten David Adjaye, Philip Freelon und J. Max Bond Jr.
Harlem-Renaissance in den 1920ern
500 Millionen Dollar hat der Bau gekostet, der auf 40.000 Quadratmetern an der National Mall in Washington Galerieräume, Sammlungslager, Theater- und Veranstaltungsräume beherbergt. 60 Prozent der Ausstellungsfläche liegen unter der Erde. Die Sammlungen decken die Geschichte der Sklaverei über die Harlem-Renaissance der 1920er-Jahre und die Bürgerrechtsbewegung bis ins 21. Jahrhundert ab.
Nicht nur haben die Demokraten bei der Wahl zum Repräsentantenhaus 2018 einen respektablen Sieg errungen, auch haben die rassistischen Einstellungen unter weißen Amerikanern seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten erfreulicherweise nicht zu-, sondern abgenommen. Zu diesem Resultat kommt eine Studie des Politologen Daniel J. Hopkins von der University of Pennsylvania. Zwischen 2007 und 2018 wurden die Teilnehmer an der Untersuchung mehrfach interviewt, wobei Vorurteile gegenüber Schwarzen und Latinos auf der Skala der Forscher gerade in den vergangenen beiden Jahren am deutlichsten zurückgingen. Die Autoren der Studie halten das für eine Gegenreaktion auf Trump, dessen Verhalten es Rassisten leichter macht, Dinge auszusprechen, die man früher nicht sagen durfte. Eine Mehrheit der Amerikaner wird offenbar gerade dadurch dazu gebracht, sich als weniger vorurteilsbelastet zu identifizieren. Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen der „World Values Survey“, einer Erhebung zum weltweiten Wertewandel. Demnach sind – entgegen der weitverbreiteten Meinung, die Welt bewege sich in Richtung Autoritarismus – liberale Werte weiter auf dem Vormarsch und Feindseligkeiten wie Xenophobie und Homophobie im Abnehmen begriffen. Vielleicht verspüren gerade in einer Zeit steigender nationalistischer Gefahren immer mehr Menschen den Drang, sich zu liberalen Werten zu bekennen.
Schon Dr. Martin Luther King Jr. erkannte: „Der Afroamerikaner braucht den weißen Mann, um ihn von seiner Angst zu befreien. Der weiße Mann braucht den Afroamerikaner, um ihn von seiner Schuld zu befreien.“Und: „Die Menschen in Amerika sind vom Rassismus angesteckt – das ist die Gefahr Paradoxerweise sind sie aber