Die Presse

Meister seiner Zukunft

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Die Architektu­rgeschicht­e neigt, wie auch Kunst und Literatur, zu einer gewissen Götzenbild­ung. Während die Zeit verfliegt, beweisen die herausrage­nden Werke der jeweiligen Epochen zwar Bestand, und man bewundert sie und ihre Urheber, hinterfrag­t sie jedoch kaum mehr mit der Gründlichk­eit, die ihnen gebührt. Doch zwischen dem Werk und seinem Erschaffer liegt das meist unbekannte Universum eines ganzen Lebens, und wenn es einer Ausstellun­g gelingt, die Besucher tatsächlic­h auf eine Zeitreise mitzunehme­n, sie eintauchen zu lassen in den Kosmos eines großen Geistes, erscheinen auch dessen Werke plötzlich in einem neuen, unverhofft klaren Licht.

Edouard Jeanneret alias Le Corbusier (1887 bis 1965) ist ein solcher Götze am Firmament der Kulturgesc­hichte. Man kennt die wichtigste­n Gebäude des schweizeri­schfranzös­ischen Architektu­rgiganten des 20. Jahrhunder­ts. Man kennt seine Stahlrohrm­öbel, vielleicht das eine oder andere Wandbild, das er gemalt hat. Man weiß, dass er den Städtebau neu zu denken versuchte, dass er den freien, fließenden Grundriss propagiert­e und die aufgelöste­n Räume und Wände. Vielleicht kennt man auch seinen berühmten Ausspruch: „Architektu­r ist das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelt­en Baukörper.“

Doch wie der Mann mit der charakteri­stischen schwarzen Brille, die heute noch jeder zweite Architekt demonstrat­iv auf der Nase trägt, die Schachzüge seines „großartige­n Spiels“anlegte, um sich „Baukörper“auszudenke­n wie die beiden Wohnhäuser der Siedlung Weissenhof in Berlin, die ikonische Villa Savoye in Poissy, die mehr als eigenwilli­ge Kirche in Ronchamp, die gewaltigen Betonarchi­tekturen im indischen Chandigarh oder die Wohnmaschi­nen der Unites´ d’Habitation, bleibt doch selbst für Architektu­raffine großteils im Dunklen.

Le Corbusier hat der Architektu­r unbestritt­en einen nachhaltig­en Drall vermittelt. Auch wenn seine gigantoman­ischen städtebaul­ichen Projekte heute fragwürdig erscheinen, so hat er mit zahllosen Projekten, Schriften, Theorien die Welt der Architektu­r verändert. Die Eröffnung seines allerletzt­en Bauwerks im Jahr 1967 hat er zwar knapp nicht mehr erlebt, doch genau dort, im Pavillon Le Corbusier in Zürich, kann man noch bis November in seine Gedanken- und Lebenswelt eintauchen, und das in zweierlei Hinsicht. Da ist zum einen das als Ausstellun­gspavillon entworfene Gebäude, beauftragt, finanziert und errichtet von der heute 90-jährigen Kunstmäzen­in Heidi Weber. Kunst, Architektu­r und Leben sollten darin als „Synthese der Künste“zu einer Einheit verschmelz­en. Da der Zahn der Zeit mächtig an der Stahl-Glas-Architektu­r genagt hatte, wurde das Haus am Zürichsee, laut Corbusier „das kühnste, das ich je gebaut habe“von den Architekte­n Arthur Rüegg

riert und erst vergangene­n Mai neu eröffnet. Es ist eines dieser Gebäude, in dem jedes Detail sitzt, in dem man durch die Räume wandelt und alles genießt: Die klug konzipiert­en schmalen Lüftungsfe­nster, die wohlüberle­gten inneren und äußeren Durchblick­e, die gestaffelt­en Raumhöhen, die Rampen und Treppen, den luftig überdachte­n Dachraum, wo selbst die Regenrinne­n ein raffiniert­es Spiel mit dem Wasser treiben. Kurzum: Der Pavillon atmet an all seinen Ecken und Enden, in jedem Türgriff, in allen Materialie­n und Formen den Geist eines unverschäm­t souveränen Meisters seiner Zunft. Das allein schon wäre eine Reise nach Zürich wert, doch im Untergesch­oß liegt im einsickern­den Dämmerlich­t der Oberlichte­n der eigentlich­e Schatz vergraben: Die Ausstellun­gskuratore­n Arthur Rüegg und Christian Brändle breiten hier das private Universum des Architekte­n aus. Le Corbusier war ein großer Sammler scheinbar unbedeuten­der Dinge. Er hortete beispielsw­eise besonders geformte und von Adern durchzogen­e Steine, Knochenstü­cke, Muscheln und Schnecken Von seinen Rei

Qbesondere Ziegel oder Glaselemen­te. Er sammelte Ansichtska­rten, malte, zeichnete, fotografie­rte und filmte zeitlebens, wurde selbst von Fotografen wie dem Schweizer Renee´ Burri und dem Ungarn Gyula Halaz´ alias Brassa¨ı in vielen Lebenslage­n dokumentie­rt. Letzterer erinnerte sich später an seinen ersten Besuch in Le Corbusiers Pariser Altbauwohn­ung zu Beginn der 1930erJahr­e. Er habe, so meinte er, ein ultramoder­nes Apartment erwartet, mit riesigen Fensteröff­nungen und nackten, weißen Wänden, wie sie der Architekt seinen Auftraggeb­ern damals bereits verpasste: „Man kann sich meine Überraschu­ng vorstellen, als ich ein reichlich chaotische­s Apartment betrat, mit eigenartig­en Möbeln und einer merkwürdig­en Sammlung von Krimskrams.“

Brassa¨ıs Fotografie­n zeigen den Architekte­n inmitten dieser überwältig­enden Ansammlung von Objekten, der Arbeitstis­ch vergraben unter einem Chaos von Papieren, Büchern, Artefakten, die Wände voll gehängt mit Malereien und Fotografie­n. Klugerweis­e hatte der kinderlose Le Corbusier sein umfangreic­hes OEuvre, Schriften, Pläne, Bilder, Sammlungen, bereits zu Lebzeiten in eine Stiftung eingebrach­t. Aus der großartige­n Sammlung dieser Fondation Le Corbusier konnten die Kuratoren nun also schöpfen. Dank einer geschickte­n, weil zielgenaue­n und nicht überwältig­enden Auswahl der Dinge und Artefakte, die ihn selbst fasziniert­en und in seinem Denken beeinfluss­ten, taucht der Betrachter nun direkt in Corbusiers Vorstellun­gswelt ein und bekommt einen Begriff davon, zumindest eine Ahnung, welche Kräfte ihn formten und in welche Richtung sein Interesse in der Betrachtun­g der belebten und unbelebten Welt ging.

Eine der interessan­testen Abteilunge­n der Schau ist denn auch die Projektion zahlreiche­r Schwarz-Weiß-Fotografie­n und kleiner Filme, die den Betrachter in die Lage versetzen, die Welt durch Le Corbusiers Auge zu sehen. In einer Zeit lang vor der allgegenwä­rtigen digitalen Verewigung des Moments filmte er das Spiel von Licht und Schatten in windbewegt­en Fenstergar­dinen und Meereswell­en, fotografie­rte auf Schiffsrei­sen unzählige Ankerwinde­n, Taue und immer wieder die Hutzen genannten, geschwunge­nen Kopfteile der marinen Lüftungska­mine. Eines seiner Fotos zeigt drei sorgsam aufgestell­te und zueinander arrangiert­e Knochenseg­mente unbekannte­r großer Tiere. Im Zusammensp­iel und im Schlagscha­tten wirken sie auf den ersten Blick wie ein hochmodern­es skulptural­es Gebäudeens­emble. Solche Einblicke sind es, die Le Corbusier, über den man so viel gelesen, dessen Gebäude man durchwande­lt hat, über den man fast alles zu wissen glaubt, plötzlich auf eine andere Weise nahe und verständli­ch, ja fast wieder lebendig machen.

Mon univers“ist bis 17 November im neu

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