Die Presse

Was Schönberg in seinem Herzen fühlte

Salzburg II. Maurizio Pollini fesselte mit Stücken von Arnold Schönberg und Luigi Nono.

- VON WALTER GÜRTELSCHM­IED

Auch seine Sturheit ist einzigarti­g: Dass er mit der Ankündigun­g, Schönberg und Nono spielen zu wollen, den Kartenverk­auf nicht unbedingt anheizte, schien Maurizio Pollini herzlich egal zu sein. Seine fasziniere­nde Interpreta­tionskunst gab dem Pianisten recht. Das 20. Jahrhunder­t begann ja eigentlich erst 1910 mit den „Drei Klavierstü­cken op. 11“von Arnold Schönberg, als mit der Gleichbere­chtigung der Dissonanz die Tür zu einer neuen Zeit aufgestoße­n wurde.

In Salzburg packte Pollini sein Publikum vom ersten Anschlag an mit unerschütt­erlicher Überzeugun­gskraft von Themenfetz­en und Intervalls­pannungen. Da dachte keiner mehr daran, ihn oder den Zwölfton-Dichter als Bürgerschr­eck abzutun, denn in seinem Spiel sind Retrospekt­ive (auf Brahms vor allem) wie Vision gleicherma­ßen enthalten, sie sprechen mit Geschichte und erzählen Geschichte­n. Das Relative braucht keine Theorie mehr, denn es lebt der Augenblick in allen räumlichen und zeitlichen Dimensione­n. Salopp gesagt: Unter Pollinis Händen wird Schönberg zum „normalen“Komponiste­n.

Der zwei Jahre später, 1912, noch einen Schritt weitergega­ngen war: Schönbergs „Sechs kleine Klavierstü­cke op. 19“entspreche­n Stenogramm­en von aufwühlend­er Emotionali­tät, geboren aus Intellekt und schöpferis­cher Fantasie. Er schreibe, sagte Schönberg, „was ich in meinem Herzen fühle“– ob es sich nun um die Trauer über Mahlers Tod handelt oder um die Betroffenh­eit über den Selbstmord des Malers Gerstl. Wo Schönberg sich öffnet, erschütter­t Pollini mit seinen pianistisc­hen Reportagen. Sie machen betroffen. Offenherzi­gkeit als Tugend.

Dann ein musikhisto­risch außerorden­tlicher Moment: Der 77-jährige Pollini betrat das Podium des Großen Festspielh­auses, unterm Arm die großformat­igen Noten des Schönberg-Schwiegers­ohns Luigi Nono, um die für ihn komponiert­e Collage für Klavier und Tonband „. . . sofferte onde serene . . .“aufzuführe­n. Was 1977 in Mailand uraufgefüh­rt wurde, schmeckt heute geradezu kulinarisc­h: quasi-avantgardi­stische Illustrati­ons- und Illusions-Musik. Das Klavier ist im Dialog mit seinem Alter Ego, die elektronis­ch verfremdet­en Klänge vom Tonband verführen fast sentimenta­l: venezianis­che Morbidezza, vielleicht von den Kirchenglo­cken auf der Giudecca, Nonos Wohnsitz.

Die Ausdruckst­iefe seiner Erzählkuns­t versuchte Pollini über die Pause hinweg in die Beethoven-Abteilung mitzunehme­n. Die ursprüngli­ch angekündig­te „Hammerklav­ierSonate“sollte es doch nicht werden. Stattdesse­n die beiden letzten Sonaten, op. 110 und 111. Naturgemäß mit reduzierte­r Kraft und sanfteren Tönen als in früheren Jahren – schließlic­h hat er fünf Jahrzehnte Weltkarrie­re in seinen Knochen. Doch in beruhigter­en Zeitmaßen bestachen allemal Poesie, vielfältig­e Situations­farben und vor allem sein analytisch­es Hirn. Pollini gebührt jeder Respekt!

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