Was Schönberg in seinem Herzen fühlte
Salzburg II. Maurizio Pollini fesselte mit Stücken von Arnold Schönberg und Luigi Nono.
Auch seine Sturheit ist einzigartig: Dass er mit der Ankündigung, Schönberg und Nono spielen zu wollen, den Kartenverkauf nicht unbedingt anheizte, schien Maurizio Pollini herzlich egal zu sein. Seine faszinierende Interpretationskunst gab dem Pianisten recht. Das 20. Jahrhundert begann ja eigentlich erst 1910 mit den „Drei Klavierstücken op. 11“von Arnold Schönberg, als mit der Gleichberechtigung der Dissonanz die Tür zu einer neuen Zeit aufgestoßen wurde.
In Salzburg packte Pollini sein Publikum vom ersten Anschlag an mit unerschütterlicher Überzeugungskraft von Themenfetzen und Intervallspannungen. Da dachte keiner mehr daran, ihn oder den Zwölfton-Dichter als Bürgerschreck abzutun, denn in seinem Spiel sind Retrospektive (auf Brahms vor allem) wie Vision gleichermaßen enthalten, sie sprechen mit Geschichte und erzählen Geschichten. Das Relative braucht keine Theorie mehr, denn es lebt der Augenblick in allen räumlichen und zeitlichen Dimensionen. Salopp gesagt: Unter Pollinis Händen wird Schönberg zum „normalen“Komponisten.
Der zwei Jahre später, 1912, noch einen Schritt weitergegangen war: Schönbergs „Sechs kleine Klavierstücke op. 19“entsprechen Stenogrammen von aufwühlender Emotionalität, geboren aus Intellekt und schöpferischer Fantasie. Er schreibe, sagte Schönberg, „was ich in meinem Herzen fühle“– ob es sich nun um die Trauer über Mahlers Tod handelt oder um die Betroffenheit über den Selbstmord des Malers Gerstl. Wo Schönberg sich öffnet, erschüttert Pollini mit seinen pianistischen Reportagen. Sie machen betroffen. Offenherzigkeit als Tugend.
Dann ein musikhistorisch außerordentlicher Moment: Der 77-jährige Pollini betrat das Podium des Großen Festspielhauses, unterm Arm die großformatigen Noten des Schönberg-Schwiegersohns Luigi Nono, um die für ihn komponierte Collage für Klavier und Tonband „. . . sofferte onde serene . . .“aufzuführen. Was 1977 in Mailand uraufgeführt wurde, schmeckt heute geradezu kulinarisch: quasi-avantgardistische Illustrations- und Illusions-Musik. Das Klavier ist im Dialog mit seinem Alter Ego, die elektronisch verfremdeten Klänge vom Tonband verführen fast sentimental: venezianische Morbidezza, vielleicht von den Kirchenglocken auf der Giudecca, Nonos Wohnsitz.
Die Ausdruckstiefe seiner Erzählkunst versuchte Pollini über die Pause hinweg in die Beethoven-Abteilung mitzunehmen. Die ursprünglich angekündigte „HammerklavierSonate“sollte es doch nicht werden. Stattdessen die beiden letzten Sonaten, op. 110 und 111. Naturgemäß mit reduzierter Kraft und sanfteren Tönen als in früheren Jahren – schließlich hat er fünf Jahrzehnte Weltkarriere in seinen Knochen. Doch in beruhigteren Zeitmaßen bestachen allemal Poesie, vielfältige Situationsfarben und vor allem sein analytisches Hirn. Pollini gebührt jeder Respekt!