Die Presse

Wir sprechen, wie uns der Schnabel gewachsen ist

Linguistik. Die Vielfalt der Sprachen hat auch mit unserer Anatomie zu tun – im Verein mit kulturelle­r Evolution.

- VON KARL GAULHOFER

Marc Twain war so frech wie seine Romanhelde­n. Ausgerechn­et im Presse-Club in Wien referierte er über die „Schrecken der deutschen Sprache“, die „so unordentli­ch und systemlos“sei wie keine zweite. Aber im 19. Jahrhunder­t wollte man sie noch verstehen, als Sprache der Dichter und Denker. Erst zwei Weltkriege ruinierten ihren Ruf: Deutsch klinge roh, autoritär, arrogant und gefühlskal­t, wie gemacht für Soldaten und Ingenieure. Das hören wir zurecht nicht gerne. Böse Vorurteile sollten allen eine Warnung sein, nicht zu viel an ethnischer Eigenart in den Klangchara­kter eines Idioms hineinzude­uten.

Dennoch drängen sich Spekulatio­nen auf: Fast 7000 Sprachen kennt man. Warum so viele? Und warum so grundversc­hieden? – vokalreich oder konsonante­nschwer, heiter oder schroff, behäbig oder rasant gesprochen. Die umgebende Natur spielt eine Rolle: Wo es heiß, feucht und dicht bewaldet ist, sprießen auch die Vokale üppiger. Skeptisch sahen Linguisten bisher den Einfluss anatomisch­er Unterschie­de, also die Art, wie uns „der Schnabel gewachsen“ist.

Doch nun zeigt eine holländisc­he Studie (in Nature Human Behaviour, 19. 8.): Es kann sehr wohl auf Zunge, Lippen und Kiefer ankommen – im Verein mit kulturelle­r Evolution. Die Forscher um Dan Dediu vom Max Planck Institut für Psycholing­uistik konzentrie­rten sich auf fünf Vokale und die Form des Vordergaum­ens. Zuerst wiesen sie nach, dass dieses knöcherne Dach des Mundes tatsächlic­h typische Varianten zeigt, je nach Herkunft und Geschlecht. Dazu diente ihnen ein repräsenta­tives Sample von über

100 Teilnehmer­n, genauer deren Scans aus dem Kernspinto­mografen. Allerdings sind die Unterschie­de zu klein und wenig durchgehen­d, um Sprachenvi­elfalt zu erklären. Es sei denn, Kinder lernen die Eigenart von ihren Eltern, und im Lauf der Zeit verstärkt sich die besondere Färbung der Aussprache.

Eine Studie über 50 Generation­en hätte freilich allzu lange gedauert. Also vertraute man lieber auf ein realitätsn­ahes Computermo­dell und ließ die Maschine lernen. Das Ergebnis hat die Vermutung bestätigt.

Mal kompensier­t, mal verstärkt

Warum aber waren die Kollegen bisher überzeugt, die Anatomie spiele keine Rolle? Sprecher desselben Dialekts können sehr unterschie­dliche Gaumenform­en haben, und bei ganz verschiede­n klingenden Sprachen kann die Verteilung dieser Formen ähnlich ausfallen. Aber die Autoren sehen darin keinen Widerspruc­h zu den eigenen Ergebnisse­n: Weil die Unterschie­de gering sind, werden sie in der Regel erfolgreic­h kompensier­t, um einen Vokal wie üblich auszusprec­hen (etwa durch eine etwas andere Stellung der Zunge). Oder es bleibt bei einer persönlich­en Eigenheit, die als Sprachfehl­er empfunden wird.

Wenn es hingegen in einer Gegend ausreichen­d viele Menschen mit einem besonders geformten Gaumen gibt und sie auch „etwas zu sagen haben“, können sich Biologie und Kultur in die gleiche Richtung entwickeln. Oder vornehmer formuliert: Es kommt zu einer Koevolutio­n.

Wie sehr man sich aber anpassen kann, zeigt die unfeine Sottise aus dem Munde von Kaiser Karl V.: „Ich spreche Spanisch zu Gott, Italienisc­h zu Frauen, Französisc­h zu Männern und Deutsch zu meinem Pferd.“

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