Dem Machthaber die volle Wahrheit sagen
Gastkommentar. Die historische Erfahrung zeigt: Geheimdienstchefs sollten die obersten Staatenlenker stets mit möglichst wahrheitsgetreuen Informationen konfrontieren. Sich politischem Druck zu beugen, kann fatale Folgen haben.
Präsidenten brauchen einen Geheimdienstchef, dem sie vertrauen können. Aber kann sich der Rest der Regierung darauf verlassen, dass er dem Machthaber die volle Wahrheit sagt, wie das der zurückgetretene US-Geheimdienstkoordinator Dan Coats tat, als er dem Präsidenten in heiklen Fragen zu Russland, Iran und Nordkorea widersprach?
Kostspielige nachrichtendienstliche Fehler sind keineswegs auf die USA beschränkt. Frankreich hat 1940 den Angriff Deutschlands über die Ardennen nicht vorhergesehen; Stalin wurde – trotz geheimdienstlicher Warnungen – im Juni 1941 von Hitlers Überfall überrascht; Israel rechnete im Oktober 1973 nicht mit dem Yom Kippur Krieg.
Präsident Donald Trump ärgert sich über die US-Nachrichtendienste, weil sie den Grad der Einmischung Russlands in die Wahlen 2016 aufgedeckt haben. Er rechtfertigt seine Herabwürdigung ihrer Arbeit oft damit, dass sie 2003 die Bedrohung durch irakische Massenvernichtungswaffen falsch eingeschätzt hätten.
Schwieriges Aufklärungsgebiet
Viele Republikaner haben Präsident George W. Bush vorgeworfen, zu lügen und die Geheimdienste gezwungen zu haben, entsprechende Nachweise für einen Krieg zu liefern, für den Bush sich schon lange zuvor entschieden hatte. Aber die Situation war komplex. Und um zu verstehen, welche Probleme damit einhergehen, wenn es darum geht, dem Machthaber die Wahrheit zu sagen, müssen wir die Mythen beseitigen.
Der Irak war ein schwieriges Zielgebiet für die nachrichtendienstliche Aufklärung. Saddam Hussein war ein Diktator, der Angst verbreitete. Er tötete diejenigen, die sich zu Wort meldeten, selbst seinen eigenen Schwiegersohn, als er 1995 bekannt gab, dass es ein Programm für biologische Waffen gebe. Die USA und Großbritannien hatten nur wenige zuverlässige Spione im Irak, und manchmal berichteten diese nur indirekt über Dinge, die sie gehört, aber nicht selbst gesehen hatten.
Nachdem die UN-Inspektoren 1998 ausgewiesen wurden, verloren die USA den Zugang zu unparteiischen Kontaktleuten und füllten das Vakuum oft mit den ungenauen Angaben irakischer Exilanten, die ihre eigene Agenda hatten. Und kein Land hatte Zugang zum inneren Kreis Saddams und damit auch keine direkten Beweise für das größte Rätsel von allen: Wenn Saddam keine Waffen hatte, warum beharrte er dann darauf, so zu tun, als hätte er welche?
Die Analyse war ebenfalls schwach. Die Analytiker waren ehrlich, aber da ihnen Beweise für Saddams Denken fehlten, verfielen sie in Projektion: Sie gingen davon aus, Saddam reagiere so wie jeder „rationale“Politiker es tun würden. Stattdessen glaubte Saddam, seine Macht zu Hause und in der Region hinge davon ab, dass er seinen Ruf als Besitzer von Massenvernichtungswaffen bewahrte.
Hinterfragen der Erkenntnisse
Ein weiteres Problem war die Tendenz der Analytiker, einen früheren Fehler ausgleichen zu wollen, der aus einer gegenteiligen Einschätzung entstanden war. Nach dem ersten Golfkrieg entdeckten UN-Inspektoren, dass Saddam der Entwicklung einer Atomwaffe näher gewesen war, als bis dahin angenommen. Man war sich einig, ihn nicht wieder unterschätzen zu wollen, und überschätzte ihn, was durch das Trauma vom 11. September noch verstärkt wurde.
Normalerweise werden vorherrschende Erkenntnisse und Annahmen durch eine Vielzahl von Analysemethoden hinterfragt; Etwa durch Personen, die gegenteilige Meinungen ausformulieren; oder durch den Einsatz von „roten Teams“, die alternative Interpretationen aufzeigen; oder es wird von den Analytikern verlangt, ihre Erkenntnisse komplett zu hinterfragen. Nach allem, was man hört, ist dies eher selten passiert.
Die Rolle der Politik
Welche Rolle spielte die Politik? Die Bush-Regierung ordnete nicht an, dass Geheimdienstler lügen sollten, und sie logen auch nicht. Aber politischer Druck kann die Aufmerksamkeit verzerren, auch wenn er das Nachrichtenmaterial nicht direkt beschädigt. Wie mir ein weiser Veteran einmal erklärte: „Wir hatten einen großen Haufen Beweise dafür, dass Saddam Massenvernichtungswaffen hatte, und einen kleineren Haufen dafür, dass er sie nicht hatte. Wir konzentrierten uns hauptsächlich auf den großen Haufen und verbrachten nicht genug Zeit mit dem kleineren.“
Auch die Präsentation der nachrichtendienstlichen Erkenntnisse für Entscheidungsträger war fehlerhaft. Es gab wenig Information darüber, dass „Massenvernichtungsmittel“ein verwirrender Begriff ist, da er nukleare, biologische und chemische Waffen in einen Topf wirft, die sehr unterschiedliche Eigenschaften und Folgen haben. Der Einschätzung der US-Nachrichtendienste von 2002 zufolge war Saddams Kauf von Aluminiumrohren ein Beweis dafür, dass er sein Atomprogramm hochfuhr. Aber Experten des Energieministeriums, die das Fachwissen hatten, waren anderer Meinung. Leider wurden ihre Erkenntnisse in einer Fußnote begraben.
Politiker können nicht für die analytischen Fehler der Geheimdienste verantwortlich gemacht werden. Aber sie können zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie sich über die Geheimdiensterkenntnisse hinwegsetzen oder diese öffentlich übertreiben. US-Vizepräsident Dick Cheney sagte, dass es „keinen Zweifel“gäbe, dass Saddam Massenvernichtungsmittel habe. Präsident Georg W. Bush erklärte, dass die Beweise darauf hindeuteten, dass der Irak sein Atomprogramm wieder hochfahre. Solche Aussagen ignorierten die Zweifel und Vorbehalte, die in den Geheimdienstberichten geäußert wurden.
Zyklisches Vertrauen
Das Vertrauen in die Nachrichtendienste verläuft in unseren Demokratien in Zyklen. Während des Kalten Krieges wurden Geheimdienstler oft als Helden angesehen. Nach Vietnam wurden sie zu Bösewichten. Der 11. September hat der Öffentlichkeit drastisch vor Augen geführt, dass gute Nachrichtendienste wichtig sind. Aber das Scheitern, Massenvernichtungswaffen im Irak zu finden, hat das Misstrauen gegen Nachrichtendienste erneut geweckt, und Trump hat das genutzt, um die russische Einmischung in USWahlprozesse zu verschleiern.
Die Lehren für den neuen Chefkoordinator der US-Nachrichtendienste sind klar. Zusätzlich zu den bürokratischen Aufgaben der Koordination von Budgets und Agenturen muss er das handwerkliche Können bei der Erfassung von Informationen überwachen, den rigorosen Einsatz alternativer Techniken zur Analyse verteidigen und die sorgfältige Informierung der politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit sicherstellen. Vor allem aber hat er die Pflicht, dem Machthaber die volle Wahrheit zu sagen.