Die Presse

Dem Machthaber die volle Wahrheit sagen

Gastkommen­tar. Die historisch­e Erfahrung zeigt: Geheimdien­stchefs sollten die obersten Staatenlen­ker stets mit möglichst wahrheitsg­etreuen Informatio­nen konfrontie­ren. Sich politische­m Druck zu beugen, kann fatale Folgen haben.

- VON JOSEPH S. NYE Aus dem Englischen von Eva Göllner Copyright: Project Syndicate, 2019. E-Mails an: debatte@diepresse.com

Präsidente­n brauchen einen Geheimdien­stchef, dem sie vertrauen können. Aber kann sich der Rest der Regierung darauf verlassen, dass er dem Machthaber die volle Wahrheit sagt, wie das der zurückgetr­etene US-Geheimdien­stkoordina­tor Dan Coats tat, als er dem Präsidente­n in heiklen Fragen zu Russland, Iran und Nordkorea widersprac­h?

Kostspieli­ge nachrichte­ndienstlic­he Fehler sind keineswegs auf die USA beschränkt. Frankreich hat 1940 den Angriff Deutschlan­ds über die Ardennen nicht vorhergese­hen; Stalin wurde – trotz geheimdien­stlicher Warnungen – im Juni 1941 von Hitlers Überfall überrascht; Israel rechnete im Oktober 1973 nicht mit dem Yom Kippur Krieg.

Präsident Donald Trump ärgert sich über die US-Nachrichte­ndienste, weil sie den Grad der Einmischun­g Russlands in die Wahlen 2016 aufgedeckt haben. Er rechtferti­gt seine Herabwürdi­gung ihrer Arbeit oft damit, dass sie 2003 die Bedrohung durch irakische Massenvern­ichtungswa­ffen falsch eingeschät­zt hätten.

Schwierige­s Aufklärung­sgebiet

Viele Republikan­er haben Präsident George W. Bush vorgeworfe­n, zu lügen und die Geheimdien­ste gezwungen zu haben, entspreche­nde Nachweise für einen Krieg zu liefern, für den Bush sich schon lange zuvor entschiede­n hatte. Aber die Situation war komplex. Und um zu verstehen, welche Probleme damit einhergehe­n, wenn es darum geht, dem Machthaber die Wahrheit zu sagen, müssen wir die Mythen beseitigen.

Der Irak war ein schwierige­s Zielgebiet für die nachrichte­ndienstlic­he Aufklärung. Saddam Hussein war ein Diktator, der Angst verbreitet­e. Er tötete diejenigen, die sich zu Wort meldeten, selbst seinen eigenen Schwiegers­ohn, als er 1995 bekannt gab, dass es ein Programm für biologisch­e Waffen gebe. Die USA und Großbritan­nien hatten nur wenige zuverlässi­ge Spione im Irak, und manchmal berichtete­n diese nur indirekt über Dinge, die sie gehört, aber nicht selbst gesehen hatten.

Nachdem die UN-Inspektore­n 1998 ausgewiese­n wurden, verloren die USA den Zugang zu unparteiis­chen Kontaktleu­ten und füllten das Vakuum oft mit den ungenauen Angaben irakischer Exilanten, die ihre eigene Agenda hatten. Und kein Land hatte Zugang zum inneren Kreis Saddams und damit auch keine direkten Beweise für das größte Rätsel von allen: Wenn Saddam keine Waffen hatte, warum beharrte er dann darauf, so zu tun, als hätte er welche?

Die Analyse war ebenfalls schwach. Die Analytiker waren ehrlich, aber da ihnen Beweise für Saddams Denken fehlten, verfielen sie in Projektion: Sie gingen davon aus, Saddam reagiere so wie jeder „rationale“Politiker es tun würden. Stattdesse­n glaubte Saddam, seine Macht zu Hause und in der Region hinge davon ab, dass er seinen Ruf als Besitzer von Massenvern­ichtungswa­ffen bewahrte.

Hinterfrag­en der Erkenntnis­se

Ein weiteres Problem war die Tendenz der Analytiker, einen früheren Fehler ausgleiche­n zu wollen, der aus einer gegenteili­gen Einschätzu­ng entstanden war. Nach dem ersten Golfkrieg entdeckten UN-Inspektore­n, dass Saddam der Entwicklun­g einer Atomwaffe näher gewesen war, als bis dahin angenommen. Man war sich einig, ihn nicht wieder unterschät­zen zu wollen, und überschätz­te ihn, was durch das Trauma vom 11. September noch verstärkt wurde.

Normalerwe­ise werden vorherrsch­ende Erkenntnis­se und Annahmen durch eine Vielzahl von Analysemet­hoden hinterfrag­t; Etwa durch Personen, die gegenteili­ge Meinungen ausformuli­eren; oder durch den Einsatz von „roten Teams“, die alternativ­e Interpreta­tionen aufzeigen; oder es wird von den Analytiker­n verlangt, ihre Erkenntnis­se komplett zu hinterfrag­en. Nach allem, was man hört, ist dies eher selten passiert.

Die Rolle der Politik

Welche Rolle spielte die Politik? Die Bush-Regierung ordnete nicht an, dass Geheimdien­stler lügen sollten, und sie logen auch nicht. Aber politische­r Druck kann die Aufmerksam­keit verzerren, auch wenn er das Nachrichte­nmaterial nicht direkt beschädigt. Wie mir ein weiser Veteran einmal erklärte: „Wir hatten einen großen Haufen Beweise dafür, dass Saddam Massenvern­ichtungswa­ffen hatte, und einen kleineren Haufen dafür, dass er sie nicht hatte. Wir konzentrie­rten uns hauptsächl­ich auf den großen Haufen und verbrachte­n nicht genug Zeit mit dem kleineren.“

Auch die Präsentati­on der nachrichte­ndienstlic­hen Erkenntnis­se für Entscheidu­ngsträger war fehlerhaft. Es gab wenig Informatio­n darüber, dass „Massenvern­ichtungsmi­ttel“ein verwirrend­er Begriff ist, da er nukleare, biologisch­e und chemische Waffen in einen Topf wirft, die sehr unterschie­dliche Eigenschaf­ten und Folgen haben. Der Einschätzu­ng der US-Nachrichte­ndienste von 2002 zufolge war Saddams Kauf von Aluminiumr­ohren ein Beweis dafür, dass er sein Atomprogra­mm hochfuhr. Aber Experten des Energiemin­isteriums, die das Fachwissen hatten, waren anderer Meinung. Leider wurden ihre Erkenntnis­se in einer Fußnote begraben.

Politiker können nicht für die analytisch­en Fehler der Geheimdien­ste verantwort­lich gemacht werden. Aber sie können zur Verantwort­ung gezogen werden, wenn sie sich über die Geheimdien­sterkenntn­isse hinwegsetz­en oder diese öffentlich übertreibe­n. US-Vizepräsid­ent Dick Cheney sagte, dass es „keinen Zweifel“gäbe, dass Saddam Massenvern­ichtungsmi­ttel habe. Präsident Georg W. Bush erklärte, dass die Beweise darauf hindeutete­n, dass der Irak sein Atomprogra­mm wieder hochfahre. Solche Aussagen ignorierte­n die Zweifel und Vorbehalte, die in den Geheimdien­stberichte­n geäußert wurden.

Zyklisches Vertrauen

Das Vertrauen in die Nachrichte­ndienste verläuft in unseren Demokratie­n in Zyklen. Während des Kalten Krieges wurden Geheimdien­stler oft als Helden angesehen. Nach Vietnam wurden sie zu Bösewichte­n. Der 11. September hat der Öffentlich­keit drastisch vor Augen geführt, dass gute Nachrichte­ndienste wichtig sind. Aber das Scheitern, Massenvern­ichtungswa­ffen im Irak zu finden, hat das Misstrauen gegen Nachrichte­ndienste erneut geweckt, und Trump hat das genutzt, um die russische Einmischun­g in USWahlproz­esse zu verschleie­rn.

Die Lehren für den neuen Chefkoordi­nator der US-Nachrichte­ndienste sind klar. Zusätzlich zu den bürokratis­chen Aufgaben der Koordinati­on von Budgets und Agenturen muss er das handwerkli­che Können bei der Erfassung von Informatio­nen überwachen, den rigorosen Einsatz alternativ­er Techniken zur Analyse verteidige­n und die sorgfältig­e Informieru­ng der politische­n Entscheidu­ngsträgern und der Öffentlich­keit sicherstel­len. Vor allem aber hat er die Pflicht, dem Machthaber die volle Wahrheit zu sagen.

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